Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
Vom Netzwerk:
Störungen der öffentlichen Ordnung führte. Daraufhin hat die Polizei das Gericht veranlasst, ein Verfahren einzuleiten. Da dem Mann keine Betrugsabsicht nachgewiesen werden kann, etwa Erschleichung einer Invalidenrente – er hat ja nicht einmal die Menschen auf der Straße angebettelt, im Gegenteil, er hat sie niedergerannt –, kam es natürlich zu keinem Strafprozess, und plötzlich habe ich die Akte auf meinem Schreibtisch im Pflegschaftsgericht und soll klären, ob ein Sachwalter bestellt werden muss. Mit so einem haarsträubenden Unsinn muss ich meine Zeit verbringen, sagte Maria.
    Ich fragte sie, warum denn der Mann so getan habe, als ob er blind sei.
    Eben, sagte sie, das habe ich auch wissen wollen. Ich habe also einen Termin für seine Anhörung gemacht, und die war heute. Der Mann ist einfach ein Querulant, glaube ich. Weißt du, was er gesagt hat? Mir ist bekannt, hat er gesagt, dass Invalidität das begehrteste Privileg in Österreich und daher das Lebensziel jedes Österreichers ist. Aber er wolle sich weder als Invalide ausgeben, noch sonst ein Privileg haben. Und schon gar keine Almosen. Aus diesem Grund habe er auch die sogenannte Ehrengabe nicht angenommen, diese viertausend Schilling, die die Republik Österreich den Überlebenden der Judenverfolgung gespendet hat. Es sei einfach so, hat er gesagt, dass er einfach nicht mehr sehen könne, was man sieht, wenn man offenen Auges durch die Straßen geht. Es sei also ein natürlicher und gesunder Reflex, dass er davor die Augen verschließe. Ich habe ihn gefragt, was denn so schrecklich an dem sei, was es zu sehen gebe. Daraufhin hat er mir elendslang sein Leben erzählt, ich habe versucht, ihn zu unterbrechen, aber er hat einfach immer weitergeredet. Er soll meine Frage beantworten, habe ich gesagt. Genau das versuche ich ja, hat er geantwortet.
    Ich fragte Maria, was er denn erzählt habe.
    Was weiß ich, sagte sie, er hat geredet und geredet, sein ganzes Leben wollte er mir erzählen, du kannst dir ja vorstellen, ich meine, das ist ja bekannt, dass es sehr schwierig war für diese Generation. Aber ich halte eben diese alten Männer nicht mehr aus, die heute noch so gern vom Krieg erzählen, oder vom Bürgerkrieg.
    Welcher Bürgerkrieg, fragte ich. Erste Republik oder Spanien?
    Wie bitte? Ach so, Spanien. Ja, von Spanien wollte er auch erzählen, glaube ich, ich weiß es wirklich nicht, viel gekämpft hat er halt, und so habe ich ihn noch einmal gefragt: Was ist denn das Schreckliche, das Sie sehen, sind das die Bilder aus der Vergangenheit, die Sie nicht losbekommen?
    Der Fernsehapparat lief übrigens noch immer. Jetzt begann die Werbung zwischen dem Wetterbericht und den Kulturnachrichten. Ich war hochgradig irritiert, wollte am liebsten aufstehen und den Apparat ausschalten, befürchtete aber, Maria zu unterbrechen.
    Nein, hat der Alte gesagt, es sind die Bilder der Gegenwart. Ich verstehe das nicht, habe ich gesagt, er könne doch froh sein, dass es Frieden gibt und nicht mehr diese politischen Wirren und dieses furchtbare Elend. Und dann sagte er: Na, sehen Sie es denn nicht, Frau Rat? Nein, habe ich gesagt, ich sehe nicht, was so furchtbar sein soll. Darauf er: Sehen Sie, Frau Rat, ich möchte mich jetzt, auf meine alten Tage, besser anpassen, drum mache ich eben die Augen zu, damit ich es auch nicht sehe.
    Das hat er gesagt?, fragte ich.
    Ja, sagte Maria, der Mann ist krank im Kopf.
    Und was hast du gemacht?
    Nichts. Ich hatte nur zu klären, ob die Voraussetzungen für Sachwaltschaft vorliegen. Die liegen nicht vor. Ich kann ihm ja nicht einen Sachwalter mitgeben als Blindenhund. Der Mann rennt wahrscheinlich jetzt gerade wieder als Blindgänger in der Stadt herum. Ein kleiner Spinner, was willst du machen?
    Ich saß zurückgelehnt da, mit geschlossenen Augen, in meinem Kopf hallte Marias Stimme nach und dröhnte eine Waschmittelwerbung.
    Können wir nicht diesen verdammten Apparat ausschalten? fragte ich.
    Nein, warte, sagte sie, ich will noch die Kultur sehen.
    Ich war nicht mehr imstande, ein Wort mit ihr zu reden. Sie merkte natürlich bald, dass etwas zerrissen war, auch wenn sie offenbar nicht verstand, warum.
    Wir gingen essen, sprachen aber kein Wort, ausgenommen beim Bestellen. Ich trank schneller und mehr als gewöhnlich. Maria sah mich fragend an. Als sie mich schließlich fragte, was ich denn hätte, verstand ich nicht gleich. Ich hatte meine Sinne nicht beisammen. Ich hatte erwartet, eine Sprechblase zu sehen, wenn sie etwas
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher