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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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hatte bereits ein halbes Jahr im Affenhaus des Amsterdamer Zoos versteckt gelebt, daher war er nicht überrascht gewesen oder hatte gar Angst gehabt. »Es war ganz normal: der Affe brachte uns das Essen.«
    So ungewöhnlich, dass es größte Aufregung auslösen sollte – da sagte er es auch schon: »So ungewöhnlich, dass es größte Aufregung auslösen sollte, war nur, dass der Schimpanse Kosheeba auch ein Buch brachte. Er stellte den Blechnapf vor uns hin und stotterte. Es klang wie ein monotones Bellen, aber bei Bellen denkt man an einen Hund und nicht an einen Menschenaffen, also sagen wir stottern. Meine Mutter setzte sich auf und imitierte die Laute des Affen, ich stimmte sofort ein. Man muss ein em hinter dem Kehlkopf vibrieren lassen, die Lippen zusammenpressen und immer wieder plötzlich öffnen, das kommt ungefähr hin. Ich kann es bis heute.« Vater führte es vor. Es war komisch, es war lächerlich, aber keiner lachte. Er nahm einen Schluck Wein. Er trank viel. Die Abende zu Hause waren unerträglich: Karin ging schlafen, Vater aber trank immer weiter und grunzte und bellte wie ein Affe. Im Grunde war er ein Affe. Geblieben. Ich wollte so schnell wie möglich raus aus diesem Käfig und zog daher gleich nach dem Schulabschluss aus.
    Die Großeltern hatten nicht von damals erzählen wollen. Einmal hatte Opa auf Nachfrage gesagt, im Frühjahr 45 habe er einen Teil seines Gedächtnisses verloren. Aber Vater war als Kleinkind zu den Affen gekommen, man hatte ihn zum Affen gemacht. »Ich glaube, ich könnte auch den Schrei des Purpurhaubenlorie noch, den wir damals immer vom Vogelhaus herübergehört haben« – was war das? Das war mir neu, Vater wich ab. Sonst kamen doch jetzt die Pelzmäntel, was erzählte er da von einem Papagei? »Die Vögel sind ja im Zoo gleich neben den Affen, und dieses Khiraa, das aaa am Ende hell und schrill, das ging durch Mark und Bein, es war schauerlich. Ich habe es einmal imitiert, damals im Affenhaus, weil ich es ja immer wieder gehört habe, nicht anders, als ich Worte oder Sätze meiner Eltern imitiert habe – und da hat Vater mir den Mund zugehalten. Er hat gebebt und mir die Hand so fest auf den Mund gepresst, dass ich geglaubt habe, meine Zähne kann ich dann ausspucken. Wie oft wir diesen Schrei gehört haben! Es war – es war – wie ein, ein ausgelagerter Angstschrei, unser Stellvertreterschrei.«
    Vater nahm noch einen Schluck Wein. Alle am Tisch starrten ihn an. Wieso liebte er es so, ein Affe zu sein und durch die unsichtbaren Gitterstäbe, die ihn von den Menschen mit normalen Biographien trennten, angegafft zu werden? Und was war – »Was war mit diesem Vogel?«, rief ich. »Das Buch!«, sagte Piet van der Heerde, ehemals ein Geschäftspartner von Großvater. »Woher hatte der Affe ein Buch?«
    Vater sah mich an, dann van der Heerde. »Das Buch«, sagte er. »Ja, das Buch. Das war wohl die Rettung. Es ist kein Zufall, sage ich immer, dass meine Erinnerung mit diesem Tag einsetzt. Als Kosheeba das Buch brachte. Da stand er also vor uns, mit Blechnapf und Buch. Mein Vater blieb zunächst liegen, ohne sich zu rühren. Ich kannte ihn damals nicht anders: ein krankes Tier, seitlich zusammengerollt mit angezogenen Beinen und den beiden Fäusten vor dem Gesicht, so dass über dem schwarzen Pelz nur sein grindiger Bart und der verfilzte Haarschopf zu sehen waren. Ich glaube nicht, dass ich damals Affen von Menschen, Kosheeba von meinen Eltern und mir zu unterscheiden wusste, als eine andere Gattung, Tier und Mensch. Mutter sagte zu den Affen immer nur: die Tiere, aber nie hat sie gesagt: wir Menschen. Also waren wir alle Tiere. Vater und Mutter hatten Pelzmäntel an, die sie fast nie auszogen.«
    Wird er jetzt sagen, dass Großvater vor dem Krieg Kürschner gewesen ist? Und dass er diesen Beruf danach nie mehr ausgeübt hat? Nein.
    »Der Opossum meiner Mutter, aber auch der Nerz meines Vaters unterschieden sich in meinen Augen nicht sonderlich vom Fell der Affen. Ich trug damals eine dicke Zottelpelz-Jacke, braunes Lammfell, das aber mittlerweile schwarz vom Dreck war. Es war eine Jacke für Erwachsene, mir viel zu groß, praktisch ein Mantel. Im Affenhaus, im Winter 44, von enormem Vorteil. Als wir unser Haus in der Udenburgerstraat verlassen mussten, hat mich Mutter in die wärmste Jacke gesteckt, die da war. Es war ja wenig Zeit, und mitnehmen durften wir nur, was wir am Leibe tragen konnten. Keinen Koffer, keine Tasche, hatte Max gesagt, zieht euch warm an. Unser
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