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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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sagt, und das Gesagte lesen zu müssen und nicht zu hören. Aber ich konnte den Satz nicht sehen. Was hast du denn?, fragte sie nochmals.
    Ich gab keine Antwort. Als ein Rosenverkäufer das Lokal betrat, beugte sich Maria weit über den Tisch zu mir herüber, berührte mich am Arm und sagte: Schenk mir eine Rose und lass mich allein!

Das Ende des Hungerwinters
    »Der Affe brachte uns das Essen«, sagte mein Vater, machte eine Pause, »und ein Buch.« Jetzt wie immer die längere Kunstpause. »Das war meine erste bewusste Erinnerung.« Und meine. Denn ich selbst habe keine anderen Erinnerungen als die des Vaters und der Großeltern – nach ihren Erfahrungen und Erzählungen hatte alles, was ich selbst erlebte, nie eine bleibende Bedeutung haben können. Und immer bin ich ermahnt worden, dankbar dafür zu sein, dass ich in meinem nachgeborenen Leben nichts hatte erleben müssen. »Erleben« gab es in meiner Familie immer nur zusammen mit »müssen«, und wenn man Glück hatte, dann musste man nicht.
    Alle starrten meinen Vater an. Ich konnte nicht glauben, dass sie diese Geschichte noch nicht gehört hatten: wie er mit seinen Eltern das letzte Kriegsjahr überlebt hatte – versteckt im Schimpansenkäfig des Amsterdamer Zoos. So oft hatte er diese Geschichte erzählt.
    Es war der Leichenschmaus nach Großvaters Begräbnis. Meine Großeltern waren bereits Anfang 1934 wegen der Nazis von Dortmund nach Amsterdam gezogen, mein Vater ist erst hier zur Welt gekommen, 1939, also war er ein gebürtiger Holländer, geboren in den damals noch freien Niederlanden. Die Großeltern hatten sich sehr schnell assimiliert und waren stolz darauf, die Landessprache perfekt zu beherrschen, auch wenn sie immer noch Heine und Schiller lasen und untereinander manchmal in der Sprache Heines oder Schillers redeten. Auch beruflich hatte Opa rasch Fuß fassen können. Er sagte immer: »Ich bin in Deutschland geboren, aber ich habe in Holland meine Heimat gefunden!«
    Vater aber war im Zweifelsfall ein mof, ein Klischeedeutscher. Leichenschmaus, das ist in Amsterdam völlig unüblich. Nicht, dass ich diese Tradition schlecht fände, aber es ist nicht unsere. Als Jude hätte er zum Shiva-Sitzen einladen können, als Amsterdamer zu koffie met cake. Aber durch seine Heirat mit Karin, einer Deutschen aus Paderborn, war er endgültig im Nichts angekommen: nirgends mehr zu Hause, ein Amsterdamer jüdischer mof, aber kein Amsterdamer, kein Jude, kein Deutscher. »Leichenschmaus« – es gibt dafür nicht einmal ein Wort im Niederländischen, also mir ist keines bekannt. Mein Freund Jaap fragte mich, ob die Deutschen vielleicht gar die Leichen verschmausen. Karin – seit meiner Pubertät habe ich nicht mehr Mutter zu ihr gesagt – meinte, es sei doch schön, wenn die Familie und die engsten Freunde nach dem Begräbnis miteinander essen und trinken würden, über den Verstorbenen redeten, ihn gleichsam aufleben ließen, und sich zugleich dafür stärkten, dass das Leben weitergehe. Das sei schön und sehr menschlich, auch wenn es keine holländische Tradition sei. Was weiß sie von menschlich?
    Also Leichenschmaus. Im Restaurant »Amsterdommertje« in der Govert Flinckstraat. Vater hatte das ganze Lokal reserviert, alle Tische waren zu einer Tafel zusammengeschoben. Hierher war Opa in seinen letzten Monaten, nach Omas Tod, jeden Abend essen gegangen. Man konnte ihn auch nur noch hier treffen. Er hatte das Haus verkauft, in dem er mit Oma gelebt hatte, und war in ein kleines Appartement in der Govert Flinck gezogen. »Das kann ich allein besser verwalten«, hatte er gesagt, »Was brauche ich ein Haus?« In diesem Appartement aber wollte er keinen Besuch mehr empfangen. Wir dachten schon, dass er seine Wohnung verkommen ließ, nichts mehr sauber machte und so weiter, aber da kannten wir ihn schlecht. Er hatte sich nicht gehen lassen.
    An der Wand des »Amsterdommertje« hing an diesem Tag ein gerahmtes Polaroid-Foto, das hier einmal von Opa gemacht worden war. Die dicken Brauen über seinen so typisch weit aufgerissenen Augen. Das war er. Am unteren Rand des Fotos stand »H. (für Harry) Rozenboom«, dazu das Datum der Aufnahme, keine drei Monate her. Die geweiteten Augen. In der Ecke hinter der kleinen Theke lehnte die blau-weiße israelische Fahne. Das hatte aber nichts mit Opa zu tun. Der Wirt war Anhänger von Ajax Amsterdam, dem »Judenclub«.
    »Das war meine erste bewusste Erinnerung«, sagte Vater.
    Knapp fünf Jahre war er damals alt, aber er
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