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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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Nachbar Max, er war Wärter im Zoo, unser Retter. Und Mutter wusste ja nicht, wie lange wir in dem Versteck bleiben mussten, also sollte ich etwas anziehen, aus dem ich nicht gleich rauswachsen würde. Es gibt ein Foto von Vater, Mutter und mir, das gleich nach der Befreiung gemacht wurde. Wir stehen da wie kostümierte Affen in unseren dicken dreckigen Pelzen. Noch zwanzig Jahre später, als ich sie darum bat, mir das Foto zu überlassen, war es Mutter peinlich, dass ich einen Strohkopf hatte. Einen Strohkopf. Ich hätte mir wenigstens das Stroh aus den Haaren wischen sollen, bevor wir uns für den Fotografen aufstellten, und sie machte sich Vorwürfe, dass sie selbst nicht darauf geachtet hatte. Dann sagte sie den Satz, den sie damals, im Affenhaus, immer wieder zu Vater gesagt hatte. Ich glaube nicht, dass mich die Erinnerung trügt, sie hatte schon damals regelmäßig zu meinem Vater gesagt: Man darf sich nicht gehen lassen!«
    Nun wurde das Essen serviert. Ich hatte etwas mit Sauerkraut befürchtet, aber es gab Omeletts mit Lachs. Vater trank, wartete, bis jeder seinen Teller bekommen hatte, und setzte fort:
    »Kosheeba hatte also den Blechnapf vor uns hingestellt, Mutter und ich, wir setzten uns auf, Vater rührte sich nicht, ließ sich gehen. Das Buch aber hielt der Affe noch, drehte es hin und her, bleckte die Zähne und stieß ein paar schrille Laute aus. Es klang wie ein Tschilpen, aber Tschilpen sagt man bei Vögeln, also sagen wir Lachen. Ich hatte Hunger und wollte mich gleich über den Napf hermachen, aber da war diese Aufregung wegen des Buchs, auch wenn es zu diesem Zeitpunkt noch kein Buch war, sondern bloß ein Päckchen, in Wachspapier eingeschlagen. Also saß ich einfach da, verstummte und schaute, weil ich die Erregung von Mutter spürte, die nun ebenfalls ganz still war, und die Aufgeregtheit von Kosheeba sah. Er stieß Vater kurz an, ließ das Päckchen vor ihm fallen und entfernte sich mit tänzerischer Behäbigkeit. Im Durchgang zum eigentlichen Käfig blieb er stehen, blickte zu uns zurück, einen sehr langen Moment, in dem wir uns aber nicht bewegten, und verschwand in die verbotene Zone. Dorthin, wo wir von Zoobesuchern hätten gesehen werden können, durfte ich nicht, da wurde Mutter wild, wenn ich hinkrabbelte oder ein paar Schritte in diese Richtung machte, dann quietschte sie, wie Kosheeba, wenn er aggressiv war, also sagen wir: sie rief mich streng zurück. Wir waren ja in diesem Korridor versteckt, durch den die Tierpfleger von hinten Zutritt zu jedem einzelnen Käfig hatten. Nur in der Nacht und nur gemeinsam mit den Eltern durfte ich durch den Durchschlupf und dann hinaus ins Außengehege, oder aber durch den Korridor zur Küche und von dort hinaus ins Freie. Dann sagte Vater: Die Luft! Und Mutter sagte: Die Sterne!«
    Diese Stelle kam immer gut an beim Publikum. Da kamen Rührung und Ergriffenheit auf. Kein Mensch kann sich vorstellen, was es heißt, monatelang in einem Affenhaus versteckt zu leben. Selbst ich, der Sohn eines Affen, kann es mir nicht vorstellen. Ich habe Monate im Zoo verbracht, wenn man die Stunden all meiner Zoo-Besuche zusammenzählt, die Stunden, die ich als Student mit meiner Zoo-Jahreskarte vor dem Affenkäfig stand – und auch ich konnte es mir nicht vorstellen. Und je ausgefeilter und wirkungsvoller Vaters Erzählungen mit der Zeit wurden, desto unwirklicher und noch weniger vorstellbar wurde, was er erzählte.
    Vater nickte und widmete sich schweigend seinem Teller. Keine Kunstpause: sein Omelett wurde kalt. Ich habe immer verachtet, wie er aß. Egal was auf den Tisch kam, er zerschnitt es schnell und achtlos in kleine Teile, um dann das Messer zur Seite zu legen und mit der Gabel alles in den Mund zu schaufeln.
    »Was habt ihr da eigentlich bekommen zum – Essen, im – in dieser Zeit?«, fragte Remke, van der Heerdes Frau.
    »Und das Buch!«, rief Nelleke, »Was war das für ein Buch?«
    In der Familie gab es das Gerücht, dass Nelleke irgendwann die Geliebte von Opa gewesen sei. Sie hatte als Kellnerin im »Café Bouwman« in der Utrechtser Straat gearbeitet, im selben Haus, in dem Opa und van der Heerde ihr Comptoir hatten. Sie waren Anlageberater, Opa nannte es »Sicherheiten«, er handle mit »Sicherheiten«, und seine »Beziehung« zu Nelleke, wenn man es denn so nennen will, war in Wahrheit eine berufliche und begann erst, als Nelleke im Café kündigte, weil sie einen anderen Stammgast heiratete, Meneer Attila, der 1956 aus Ungarn geflüchtet
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