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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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tiger«. Und ich dachte: Ja.

Lange nicht gesehen
    Wenn ich ein abstraktes Bild sehe, sehe ich nichts als ein abstraktes Bild. Der Rorschachtest löst bei mir lediglich ein Wiedererkennen des Rorschachtests aus. Sehe ich eine schwebende Jungfrau, dann sehe ich eine Frau, die aufgrund einer Reihe von versteckten technischen Vorkehrungen des Magiers zu schweben scheint. Dafür, dass man die Vorkehrungen nicht sieht, wird der Illusionskünstler bezahlt, ich kann also auch hier meinen Augen trauen. Und im Hinblick auf die ewige Plausibilität der kleinen Welt, in der ich lebe, hat es den Affekt, dass ich wohl nicht richtig sehe, ohnehin nie geben können. Was alles möglich ist, weiß ich nicht. Aber wenn ich es sehe, weiß ich, dass es wirklich ist.
    Das alles stimmt natürlich nicht, wie ich einsehen musste.
    Nicht bloß deshalb, weil ich doch einmal mit eigenen Augen etwas gesehen habe, das ich nie für möglich gehalten hätte. Aber damit hat es begonnen.
    Wie jeden Abend machte ich mit meinem Hund eine Runde um den Häuserblock. Unzählige Male schon war ich bei meinen Abendspaziergängen an der Pik-Dame-Bar vorbeigegangen, ohne je auch nur auf die Idee gekommen zu sein, hineinzugehen. Warum ich an jenem Abend plötzlich eintrat, um ein Bier zu trinken, weiß ich nicht. Vielleicht war meine diffuse Lebenssehnsucht gerade stärker als meine Angst, die prinzipiell jede Enttäuschung einkalkuliert und sie daher vermeidet, vor allem wenn es so einfach ist wie beim Vorbeigehen an einem dubiosen Wiener Vorstadtlokal, auch wenn das Gelächter von drinnen bis auf die Straße dringt.
    Ich muss den Eindruck eines Blinden gemacht haben, als ich mit meinem Hund in dem Lokal stand und hilflos mit weit aufgerissenen Augen durch die beschlagenen Brillengläser starrte. Was ich wie durch einen langsam sich lichtenden Nebel sah und ewige Augenblicke lang nicht glauben konnte, war eine Horde betrunkener und grölender Männer, die um einen Tisch herumstanden – auf dem die Lechner tanzte.
    Die Lechner Maria. Ich kannte sie seit der Schulzeit als den Inbegriff des Braven und Biederen, wir waren in derselben Klasse gewesen. Nie hat sie jemanden abschreiben lassen, aus Angst, dass dies ihr eigenes schulisches Fortkommen beeinträchtigen könnte. Noch bei der Matura hatte sie zwei Zöpfe gehabt, natürlich hatte sie mit Auszeichnung bestanden. Unmittelbar nach der Maturaprüfung fuhr die halbe Klasse in die Stadt, um zu feiern. Wir waren überrascht, dass die Lechner mitkam – dann war sie die einzige, die mit der Straßenbahn nicht schwarzfahren wollte, und wir mussten endlos auf sie warten, weil sie erst irgendwo Vorverkaufsfahrscheine besorgen musste.
    Getrunken hat sie dann nur Soda mit Himbeer. Verrucht ist uns die Webora vorgekommen mit ihrem ewigen süßen Martini. Die ist dann plötzlich mit dem Humer verschwunden, der hat überhaupt schon immer Ouzo bestellt.
    Später habe ich die Lechner noch gelegentlich getroffen, immer nur durch Zufall, aber bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr ist sie ungebrochen das zehnjährige Mädchen geblieben, das brav seine Hausaufgaben macht. Mit vierundzwanzig hatte sie ihr Jusstudium abgeschlossen, mit fünfundzwanzig, nach dem Gerichtsjahr, die Richteranwärterprüfung bestanden und vier Jahre später die Übernahmsprüfung. Alles ist bei ihr stets glattgegangen, konfliktlos, ohne Ablenkung, im idealen Zeitplan, dann war sie Richterin, und ich hatte sie aus den Augen verloren.
    Und jetzt, beinahe sechs Jahre später, sah ich sie also wieder – wie sie betrunken kreischend und lachend auf einem Tisch tanzte, von dem sie ständig herunterzustürzen drohte, während sie die Hände, die sich ihr entgegenstreckten, unter dem Vorwand, ihr Halt zu geben, verächtlich abwehrte, unter dem Vorwand, sie abzuwehren.
    Die Musik, die den kleinen schummrigen Raum der Bar ausfüllte, kam aus einem Radio, wie ich merkte, denn als das Lied zu Ende war, kamen Nachrichten. Deutsche Demokratische Republik. Es sei begonnen worden, die Berliner Mauer abzureißen, sagte der Sprecher. Die Nachkriegsordnung löse sich auf. Nochmals war durch das Geschrei und Gelächter hindurch deutlich das Wort Nachkriegsordnung aus dem Radio zu hören. Maria stand auf dem Tisch, die Hände in die Hüften gestemmt. Plötzlich sah sie mich, sie lachte auf, entweder weil sie mich erkannte, oder weil die Männer, die ihr vom Tisch herunterhalfen, sie – nein, weil sie mich erkannt hatte, denn sie kam gleich zu mir.
    Sie hatte diesen
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