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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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eigenen Leben unerreichbar schien. Ich wurde von Maria in einer Weise mit Lust bedient, während ich selbst die überraschendsten Ekstasen bei ihr auszulösen imstande war, dass ich – ich kann es nicht anders sagen – plötzlich ein anderer war.
    Und ich sah jetzt auch die Welt mit anderen Augen. Mit Verwunderung fragte ich mich, wie es möglich war, dass sie mir so fraglos selbstverständlich werden konnte, und wie mir hatte genug sein können, was sie mir bot. Dieses Geregelte, das sich so unermüdlich in sich selbst erschöpfte, dieses glatte Funktionieren, für das man in der Regel mit keinem Genuss belohnt wurde.
    Natürlich habe ich Maria gegenüber sofort ein gewisses Suchtverhalten entwickelt. Wir waren zwei in die gerade Bahn geworfene Menschen, die plötzlich entdeckt hatten, dass die lustvolle Ausgelassenheit und Narretei des Faschings, den ich auch nie lustvoll erlebt hatte, jederzeit hergestellt werden konnte. Wie viele Lokale es in der Stadt gab und wie viele Genüsse, die wir uns leisten konnten! Und wie viele Orte für die Liebe! Und nie musste man sagen: Ich liebe dich. Und nie musste man verschweigen: Ich dich nicht. Denn wir waren kein Liebespaar, sondern gewissermaßen Kollegen, die ein gemeinsames Interesse pflegten, nämlich die Herstellung von Ausnahmen.
    Ausnahmen, die zur Regel wurden. Wir vereinbarten Exzesse nach dem Terminkalender, konsumierten Genüsse, die auf einem Markt angeboten wurden, der genauso durchkalkuliert war wie die Geschäfte der Bank, für die ich arbeite. Und plötzlich produzierten all diese Reize nur neue Sehnsüchte: nach einem Erholungsurlaub, nach Reformkost und Obstsäften, nach einem guten Fernsehprogramm.
    Wenn ich in der Früh aufwachte, war mein Gesicht aufgedunsen, und meine Augen waren verschwollen. Zwei Aspirin gegen die Kopfschmerzen wurden mir bald zur Gewohnheit, so wie früher das Frühstücksei. Vor der Arbeit noch die Zeitung zu lesen gelang mir kaum mehr, mein Blick wanderte über die Zeilen, ohne dass ich verstand, was ich las. Wenn ich zu Fuß durch den Stadtpark zur Arbeit ging, hatte ich Erstickungsängste im Sturm der Tauben, die wie riesige graue Flocken um die alten Frauen mit ihren Futtertüten wirbelten.
    Als ich Maria vergangenen Freitagabend von zu Hause abholte, wollte sie, bevor wir ausgingen, erst die Nachrichten im Fernsehen anschauen. Es ist toll, sagte sie, es passiert ja jetzt jeden Tag etwas Überraschendes. Sowjetunion, DDR, Tschechoslowakei. Schau dir das an, sagte sie. Sie wirkte müde und abgespannt. Als die innenpolitischen Nachrichten kamen, begann sie zu erzählen, was für einen unglaublichen Fall, wie sie sagte, sie heute im Gericht habe bearbeiten müssen. Eine Zumutung, sagte sie, womit sie sich herumschlagen müsse.
    Es ging um ein Verfahren über die Bestellung eines Sachwalters. Ich fragte sie, was das sei. Auf deutsch gesagt, ein Entmündigungsverfahren, sagte sie. Für eine Person, die an einer psychischen Krankheit leidet oder geistig behindert ist und alle oder einzelne Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen imstande ist, ist auf ihren Antrag oder von Amts wegen ein Sachwalter zu bestellen. Gut, also stell dir vor: Ein neunundachtzigjähriger Mann geht immer wieder blind im ersten Bezirk herum, rempelt die Leute an, stolpert, reißt Menschen fast nieder, kurz: erregt öffentliches Ärgernis. Der Mann wurde polizeibekannt, weil es immer wieder Hinweise auf der Polizeiwachstube gab, Beschwerden, sogar Anzeigen, oder weil es auf der Straße zu Szenen kam, bei denen vorbeikommende Polizisten einschreiten mussten und so weiter. Das Problem entstand ja vor allem dadurch, dass der Mann sich nicht als Blinder kennzeichnete, etwa durch eine Blindenschleife, und auch keine Hilfsmittel verwendete, die einem Blinden ein selbständiges Bewegen auf der Straße ermöglichen, also zum Beispiel einen Blindenstock oder einen Blindenhund. So ein Blindenhund ist ja sehr praktisch, wie du weißt, du hast ja selbst einen, sagte sie grinsend. Kurz und gut, es stellt sich heraus, der Mann ist gar nicht blind. Er hat keinen Blindenausweis, und er war bei einer Einvernahme durch einen Beamten im Kommissariat Innere Stadt geständig, außer einer Altersweitsichtigkeit keine Beeinträchtigung seines Sehsinns zu haben. Er wurde abgemahnt, aber in der Folge hat er diese Vorspiegelung von Invalidität, so steht es in meinen Akten, Vorspiegelung von Invalidität fortgesetzt, was zu regelmäßigen
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