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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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ich, aber so viel?
    Vater schluckte, »– während draußen die Menschen verhungerten. Alles, was die Deutschen nicht für die eigene Verpflegung brauchten, wurde in den Zoo geliefert. Da kam nichts mehr in die Läden. Alles in den Zoo. Das hatte der Schweizer durchgesetzt. Und im Zoo wurden auf jeder freien Fläche, jeder Wiese, jedem Streifen Erde Gemüse und Kartoffeln angebaut, die prächtig gediehen, gedüngt mit dem Mist aus den Käfigen. Und als auch das nicht mehr reichte, traf der Doktor Semier eine Entscheidung: Wenn er nicht alle Tiere retten konnte, musste er welche opfern, um einige zu retten. Also ließ er nach und nach die Huf- und Weidetiere schlachten, um damit die Wildtiere durchzufüttern. Deshalb gab es im Hungerwinter sogar noch Fleisch im Zoo.«
    »Das ist ein Problem!«, sagte van der Heerde. »Was?«, wurde gerufen, »was ist ein Problem?«
    »Diese Geschichte von diesem Schweizer beweist, oder scheint zu beweisen, dass Kollaboration mit den Nazis sinnvoll war, effektiv, und damit –«
    »Und wenn du es statt Kollaboration Subversion nennst?«, sagte Vater. Gut geantwortet, dachte ich.
    »Kein Problem!«, sagte van der Heerde.
    »Das ist auch nicht das Problem!«, dröhnte Paul. Paul da Costa war der Kantor in der Snoga, der Synagoge, und Freund der Familie.
    »Sondern?« Das war ich.
    »Dieser Zoodirektor hat gehandelt wie der Judenrat«, sagte Paul. »Eine Karikatur des Judenrats. Er war verantwortlich für die Tiere im Zoo und musste, in Kollaboration mit den Nazis, entscheiden: Diese werden auf die Schlachtbank geschickt, um jene vielleicht zu retten. Nicht dass ich ein Problem damit habe, dass Tiere geschlachtet werden, aber in dieser Geschichte wirkt es wie eine Parodie des brutalsten Gewissenskonflikts, dem Menschen je ausgesetzt waren. Und dass dadurch nicht nur Wildtiere, sondern auch einige Juden überleben konnten, womöglich ohne dass der Schweizer es wusste – wusste er das überhaupt? Dass die Wärter in den Käfigen Menschen versteckten? Jedenfalls: Es macht das – wie soll ich sagen? – so besonders grauenhaft, weil es – ja, weil es eben eine tierische Karikatur des Elends der Juden ist!«
    »Das ist doch Unsinn«, rief Nelleke. »Wie kannst du das vergleichen?«
    »Man kann alles vergleichen!«, sagte Paul. »Wenn es Gemeinsamkeiten gibt!«
    »Jedenfalls«, sagte Vater, »das Buch, das – also das Buch –«
    »Ich finde, er hat recht«, sagte Mevrouw van der Heerde. »Jetzt vergessen wir einmal die versteckten Juden und betrachten nur die Situation des Direktors –«
    »Vergessen? Die versteckten Juden vergessen?«
    »Und die Toten?«
    »Niemals erinnern? Remke! Bitte!«
    »Das habe ich nicht gemeint! Ich wollte nur sagen –«
    »Jedenfalls. Das Buch!«, sagte Vater. »Der Affe –« Er trank sein Glas Genever aus. Ich hatte den Eindruck, dass er glühte, hochrot war sein Gesicht. Die Tränensäcke so prall, dass sie explodiert wären, wenn ich sie nur angetippt hätte. Zum ersten Mal war ihm seine Geschichte entglitten und weggenommen worden. Zum ersten Mal war sie dort, wo sie vielleicht hingehörte: im allgemeinen Palaver, dem die richtigen Worte fehlten. Weil völlig egal war, was man redete und – Ich presste die Lippen fest zusammen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ein Schwall herausstürzen würde, wenn ich den Mund öffnete. Ich lief, die Hand vor den Mund gepresst, zur Toilette, beugte mich über die Klomuschel, würgte, aber ich konnte nicht kotzen. Es kam nur ein wenig saurer Speichel. Mirjam! Immer noch über die Muschel gebeugt, holte ich das Telefon aus der Sakkotasche und rief zu Hause an. Es tutete und tutete, der ätzende Speichel tropfte und tropfte. Mirjam hob nicht ab. Ich wählte ihre Mobilnummer, hörte die Computerstimme, die mich aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. »Wie geht es dir?«, sagte ich. »Ist alles in Ordnung? Wo – wo bist du?« Dann kam der Schwall. Das hatte Mirjam jetzt auf Band. »Ruf mich zurück! Wenn du das abhörst, ruf mich – ruf mich bitte gleich zurück!«
    Bei Tisch redeten alle durcheinander. Über Widerstand und Kollaboration, Stolz und Schande Hollands, den Hungerwinter, über das jüdische Viertel, das nicht von den Nazis, sondern von den Amsterdamern zerstört worden war, auf der Suche nach Lebensmitteln in den leeren Häusern, auf der Suche nach Brennmaterial, sie hatten die Möbel zerschlagen, die Fußböden und sogar die Fensterstöcke und die Türen herausgerissen, um sie zu verheizen, am
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