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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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Löffeln? Eben. Aber es hätte auch keinen Sinn gehabt, alles einzeln zu kochen, sozusagen eine Hauptspeise mit Beilagen, ist doch klar. Also gab es immer diese Kugeln. Aber nicht nur für die Affen, auch die Wärter selbst haben das gegessen, und natürlich auch wir. Max hat solche Kugeln auch mit nach Hause genommen, für seine Familie. Es gab ja damals nichts, im Hungerwinter 44!«
    »Und wieso hat es im Zoo noch Gemüse und Getreide gegeben, und sagtest du nicht sogar Fleisch?«, fragte Piet van der Heerde, und seine Frau: »Die Menschen sind in Amsterdam verhungert, aber für die Tiere hatten sie – Lebensmittel?« Mevrouw van der Heerde war gut zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, aber sie hatte es geschafft, durch ihre altmodisch ondulierten Haare und ihre konservativen Kostüme so alt auszusehen wie er, nur besser erhalten. Ihre Finger wanderten nervös über die Perlen ihres Kolliers.
    »Das habe ich damals als Kind ja nicht wissen können. Ich wusste nicht einmal, dass in der Stadt Menschen verhungerten. Der Affe brachte das Essen.«
    Das war jetzt mein Moment. Mein Beitrag zur Biographie meines Vaters. Dass er das als Kind nicht hatte wissen können, war verständlich. Aber mich hatte schockiert, dass er auch später nie herauszufinden versuchte, welchen Umständen er sein Überleben und das seiner Eltern verdankte. Ich bin noch Schüler gewesen, hatte im Unterricht auf sehr drastische Weise die Geschichte des Hungerwinters gehört und dann meinem Vater genau diese Frage gestellt: Wieso konnten die Tiere im Zoo gefüttert werden, während Menschen verhungerten? Die Befreiung meines Vaters lag damals bereits fast ein halbes Jahrhundert zurück, und er hatte genau diese Antwort gegeben: Das habe er als Kind ja nicht wissen können.
    Ob er es denn nicht wissen wolle?
    »Doch!«
    Und warum er nicht versucht habe, es herauszufinden?
    Damals hatte Vater noch diese großen, wie schreckhaft aufgerissenen Augen. Er hatte die Augenpartie von Opa geerbt. Er hatte mich lang angesehen und schließlich geantwortet: »Ich musste mein Leben machen!«
    Jetzt sagte er: »Aber woher hatte der Affe das Essen? Gute Frage! Nun, das hat Max herausgefunden. Mein Sohn Max!« Er deutete auf mich, sah mich fragend an. Seine Augen waren vom Trinken völlig verschwollen, zu wulstigen Schlitzen zusammengepresst, Vater hatte seine Ähnlichkeit zu Opa mittlerweile verloren.
    Ich schüttelte den Kopf. Sollte er doch selbst erzählen. Es war seine Geschichte. Auch was ich recherchiert hatte, war seine Geschichte.
    »Zoodirektor während des Krieges war ein Schweizer«, sagte Vater also, »er hieß – wie hieß er doch gleich?«
    Alle sahen mich an. Er konnte es nicht lassen! Er zwang mich, in seinen Käfig zu steigen und neben ihm zu krächzen. »Semier«, ich hatte immer noch den Finger im Mund. »Dr. Armand Semier!«
    »Ja. Semier. Als Schweizer hatte er gegenüber den Besatzern eine privilegierte Position. Der Mann war sozusagen kriegswichtig, aus zwei Gründen. Erstens, weil er als neutraler Schweizer mit den Nazis zusammenarbeitete, statt in die Schweiz zurückzugehen, und zweitens, weil sein Kampf um das Überleben des Zoos auch im Interesse der Nazis war: es gab ja sonst nichts mehr, womit Wehrmacht und SS noch ein wenig bei Laune gehalten werden konnten. Ablenkung. Also: Kino, die Prostituierten und eben der Zoo. Zoobesucher waren damals hauptsächlich deutsche Soldaten. Es gibt Fotos davon –«
    Er sah mich an. Ich nickte.
    »– wie sie vor dem Schimpansenkäfig standen und über die drolligen Affen lachten – ohne zu wissen, dass dahinter Juden versteckt waren!«
    »Ihr!«
    »Ja. Wir. Aber auch andere. Es gab ein Dutzend Verstecke im Zoo. Semiers Kampf um die Rettung der Tiere rettete etwa zweihundert Juden das Leben –«
    Wieder blickte er mich an. Ich nickte. Ja! Vater!
    »– während draußen die Menschen –«
    Jetzt war Vater beim Genever. Er schenkte ein, gab die Flasche weiter. Er hatte feuchte rote Augen. Wieso sagte er Juden und Menschen, als wären das verschiedene Gattungen? Ich – ich wollte – ich dachte plötzlich, nein, ich sah plötzlich, dass seine Augen vielleicht doch nicht vom Alkohol so verquollen waren, sondern weil seine Tränensäcke so riesig waren und ihm die Augen zudrückten. Seine Tränensäcke waren wirklich Tränensäcke. Er sollte weinen. So viel weinen konnte kein Mensch, wie mein Vater Tränen gespeichert hatte. Das sah ich plötzlich. Er hatte Selbstmitleid, er konnte weinen, das wusste
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