Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
Vom Netzwerk:
Sie kann es nicht fassen. Sie traut ihren Augen nicht. Wer macht denn so eine Schlamperei.
    Sie haben den OP nicht ordentlich sauber gemacht, sagt sie.
    Ich bin Fiona, Mom, deine Tochter. Ich bin zu Besuch gekommen. Mark würde auch gern vorbeischauen, aber er hat im Moment so viel um die Ohren. Er hat jetzt einen großen Fall, ist das nicht aufregend? Sie haben ihm endlich einen wichtigen Fall anvertraut. Er hat versprochen, dich bald zu besuchen.
    Mark ist tot.
    Nein, Mom. Ich rede von deinem Sohn Mark. Er ist sehr lebendig. Es geht ihm gut. Viel besser. Du wärst stolz auf ihn.
    Sie kann den OP nicht vergessen. Er lässt sie nicht los. Ihre beste Vision an diesem Tag. Ein Bild, das sich eingebrannt hat.
    Sie haben sich nicht ordentlich vorbereitet, sagt sie. Von Anfang bis Ende schlechte Arbeit! Wo haben Sie bloß Ihre Ausbildung gemacht?
    Ich habe meinen Magister in Stanford gemacht, Mom, das weißt du doch. Und mein Promotionsstudium habe ich hier in Chicago absolviert.
    Schlampig. Schlampig und ungenau. Habe ich Ihnen denn gar nichts beigebracht? Operationen am Schädel sind heikel. Selbst unter den besten Bedingungen muss man äußerste Vorsicht walten lassen. Aber das hier ist unhygienisch, absolut stümperhaft.
    Mom.
    Das ist der Grund für die starken Blutungen.
    Mom, bitte nicht so laut.
    Dann sagt die Person zu der Frau im blauen Anzug, die in der Zimmerecke sitzt: Können wir nicht ein bisschen Privatsphäre haben? Wir müssen etwas besprechen, und das ist schwierig, wenn jemand Drittes zuhört.
    Es ist gegen die Vorschriften.
    Ich weiß, aber geht es nicht dieses eine Mal? Hier. Ich gebe Ihnen fünfzig Dollar. Gehen Sie eine rauchen oder eine Tasse Kaffee trinken. Niemand wird davon erfahren. Es wird nichts Schlimmes passieren. Sie können uns gern einschließen, kein Problem. Aber gönnen Sie uns ein bisschen Privatsphäre.
    Die Frau verlässt das Zimmer. Ein Klappern, dann ein Klicken, als die Tür von außen verriegelt wird.
    Mom, wir sind allein, jetzt können wir reden.
    Sie weiß nicht so recht, was die Person von ihr will. Sie? Er? hat sie an den Armen gefasst und drückt zu fest zu. Es tut weh.
    Mom, fällt es dir wieder ein? Erinnerst du dich jetzt? Woran erinnerst du dich?
    Eine vermasselte Operation. Grausamkeit. Man darf nicht grausam sein, wie groß die Versuchung auch sein mag. Und für viele ist es tatsächlich eine Versuchung.
    Woran erinnerst du dich?
    Viele Chirurgen sind psychisch krank. Wenn die Patienten das wüssten, hätten sie noch viel mehr Angst davor, sich unters Messer zu legen.
    Erinnerst du dich an den Abend?
    Ich weiß ein paar Dinge.
    Was weißt du?
    Immer wieder sehe ich diese Bilder.
    Ja? Die Person ist auf einmal ganz aufgeregt. Ihre grünen Augen fixieren sie.
    Es kann kompliziert werden, sagt sie. Sie strengt sich an, versucht, den Lärm zu übertönen, trotz des vielen Bluts etwas zu erkennen. Die stümperhafte Operation. Der reglose Patient.
    Siehst du jetzt auch Bilder? Mom?
    Quia peccavimus tibi.
    Was ist das? Italienisch? Spanisch?
    Miserere nostri.
    Mom.
    Meine allerliebste Kleine. Natürlich musste ich ihr helfen.
    Die Person weint. Mom, bitte. Die Frau kommt gleich zurück. Du musst aufpassen, was du sagst.
    Meine liebe Kleine. Dabei habe ich sie erst gar nicht gewollt. Ich habe sie einmal angesehen und gesagt, nein, bringt sie weg. Ich will wieder zur Arbeit. Sofort. Gebt mir meinen Körper zurück, ohne diesen Parasiten. Und dann wurde sie zum Wichtigsten in meinem Leben. Für das ich alles tun würde.
    Hör auf, Mom, du brichst mir das Herz. Das Geschöpf geht im Zimmer auf und ab, schlägt sich mit den Armen gegen den Körper, offenbar wild entschlossen, sich wehzutun. Ich hätte ihnen alles gesagt, Mom, wenn du dich erinnert hättest. Ich hätte dir das niemals angetan. Jeden Tag sage ich mir, dass ich mich stellen muss. Nein. Jede Stunde. Ich werde nie wieder Frieden finden.
    Das Geschöpf bleibt stehen, holt tief Luft, geht wieder weiter.
    Erinnerst du dich, warum ich es getan habe? Ich möchte, dass du es weißt. Ich habe es dir an dem Abend gesagt, aber wir haben nie wieder darüber gesprochen. Ich wollte nicht fragen. Ich wollte nichts zur Sprache bringen, was du vielleicht längst vergessen hattest. Soll ich es dir noch mal erzählen? Ich habe es für uns getan, für die Familie. Amanda wusste Bescheid. Sie hat mich damit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher