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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
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Beihilfe anklagen können.
    Die junge Frau zittert. Jetzt steht auch sie auf und fängt an, im Zimmer auf und ab zu gehen.
    Bitte erzählen Sie mir noch mehr über die Finger. Bitte, Jennifer. Versuchen Sie, sich zu erinnern.
    Aber du schweigst. Du hast deinen Teil beigetragen, es bleibt nichts mehr zu sagen. Du sitzt in einem fremden Zimmer mit zwei fremden Frauen. Die Füße tun dir weh. Dir knurrt der Magen. Du willst nach Hause.
    Es wird Zeit, sagst du. Mein Vater macht sich bestimmt schon Sorgen.
    Die junge Frau ergreift wieder das Wort. Ich bekam das Medaillon nicht aus Amandas Hand. Sie hielt es so fest. Wie gesagt, die Totenstarre hatte schon eingesetzt. Da bin ich in Panik geraten. Ich war mir sicher, dass jeden Moment jemand hereinkommen würde. Und dann hat meine Mutter sich einfach an die Arbeit gemacht.
    Und hat die Finger abgetrennt.
    Ja.
    Sie ist nach Hause gegangen, hat ihren Skalpellgriff und die Klingen geholt. Hat sich die Hände gewaschen wie vor einer OP . Sie hat ein Paar Gummihandschuhe gefunden, die Plastikdecke vom Küchentisch genommen und unter Amandas Hand gelegt. Dann hat sie die erste Klinge in den Griff gesteckt und angefangen, die Finger abzutrennen, einen nach dem anderen. Nach jedem Finger hat sie eine neue Klinge genommen. Sie musste alle vier Finger abtrennen, um das Medaillon herauszubekommen.
    Und was haben Sie dann getan?
    Ich habe sie nach Hause gebracht, sie gewaschen und ins Bett geschickt. Dann bin ich wieder zurückgegangen und habe sauber gemacht. Es war ganz einfach – ich habe einfach alles in die Tischdecke eingewickelt und bin zur Kinzie Street Bridge gefahren. Anschließend bin ich zu mir nach Hause gefahren und habe darauf gewartet, dass die Polizei kam. Ich war mir ganz sicher, dass sie sofort wissen würden, was sich abgespielt hatte.
    Die ältere Frau verharrt einen Moment lang reglos.
    Jennifer?
    Du wartest darauf, dass sie dir eine Frage stellt. Aber anscheinend sind ihr die Wörter ausgegangen.
    Manche Dinge bleiben hängen, sagst du.
    Ja. Manche. Sie wirkt unglücklich. Besiegt.
    Was mich betrifft, ist es mir gleichgültig, sagst du. Aber Fiona.
    Die Frau nimmt ihre Hand von deinem Arm und schaut Fiona an, die immer noch auf und ab geht. Zehn, zwanzig, dreißig Sekunden lang. Eine quälende halbe Minute. Dann trifft sie eine Entscheidung.
    Nein. Es ist nicht nötig, irgendetwas von alldem zu erwähnen. Niemandem gegenüber. Etwas Entsetzliches ist geschehen. Amanda kann nichts mehr helfen. Nichts wird etwas an dem ändern, was mit Ihrer Mutter passiert.
    Mom. Die junge Frau weint. Sie kommt zu dir, kniet sich vor dich und legt ihren Kopf in deinen Schoß.
    Danke, sagt sie zu der älteren Frau.
    Ich tue das nicht für Sie. Ihnen gegenüber empfinde ich keine Loyalität.
    Keine sieht die andere an. Du streckst eine Hand aus und berührst das leuchtend rotbraune Haar. Versenkst deine Finger darin. Zu deiner Verwunderung spürst du etwas. Es fühlt sich weich an. So seidig. Du genießt das Gefühl. Dass du deinen Tastsinn wiedergefunden hast. Du streichelst den Kopf, spürst seine Wärme. Es ist gut. Manchmal reichen die kleinen Dinge.

VIER

S ie hat keinen Hunger. Warum stellen sie ihr immer wieder Essen hin? Zähes Fleisch, Apfelkompott. Apfelsaft in einer Tasse, als wäre sie ein Kleinkind. Sie kann den klebrigsüßen Geruch nicht ausstehen, aber weil sie Durst hat, trinkt sie. Hinterher will sie sich die Zähne putzen, aber sie sagen, Nicht jetzt, das machen wir später. Dann viel später das schlampige, ruppige Schrubben, das Kratzen der Borsten an ihrer Zunge, der Becher mit Wasser, der ihr zum Mund geführt und dann viel zu schnell wieder weggenommen wird. Ausspülen. Spucken.
    Die unförmige Windel. Die Scham. Bringen Sie mich zur Toilette.
    Nein, das geht nicht, wir sind heute unterbesetzt, und wir arbeiten schon alle in Sechzehn-Stunden-Schichten. Jemand wird Ihnen später die Windel wechseln. Das macht Janice. Ich schicke sie vorbei, wenn sie ihre Pause beendet hat.
    Jennifer, Sie essen ja gar nichts. Jennifer, Sie müssen essen.
    Sie teilt sich ein Zimmer mit fünf weiteren Personen. Vier Frauen und einem Mann. Der Mann lutscht an seinen Zehen wie ein Säugling. Die Schwestern haben die Bewohner des Zimmers mit dem Sammelbegriff Ladykillers belegt.
    Es gibt keine netten Gesten. Keine Herzlichkeit. Keine Rettung.
    Einmal am Tag lässt man sie alle
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