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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
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aus dem Zimmer, dann dürfen sie in dem betonierten Hof umhergehen. Es ist kalt, wahrscheinlich wird es bald Herbst. Besser als die drückende Hitze. Sie hält sich von den anderen fern, vor allem von dem Schlangenmenschen, der dauernd mit anderen zusammenstößt und sie anschnauzt, wenn sie sich beschweren.
    Sie geht auf dem Hof auf und ab, den Kopf gesenkt, sieht nichts, sagt nichts. Das ist sicherer. Manchmal wird sie von ihrer Mutter begleitet, manchmal von Imogene, ihrer besten Freundin aus der Grundschule, mit der sie über Klettergerüste und Eis am Stiel plaudert. Meistens dreht sie ihre Runden allein. Sie hat Visionen. Sie sieht Engel mit feuerrotem Haar, die diese immerwährende Lobeshymne trällern.
    Jetzt macht sie es schon wieder, sagt eine Stimme in der Nähe.
    Aufhören! Sie soll damit aufhören! Eine Raucherstimme, begleitet von einem Husten.
    Die Engel singen weiter. Gloria in excelsis Deo. Sie schicken einen Erlöser. Einen sehr jungen, aber fähigen Mann. Er bringt drei Gaben: Die erste darf sie nicht annehmen. Die zweite soll sie der ersten Person überreichen, die freundlich zu ihr spricht. Die dritte ist nur für sie. Das ist das Wort Gottes.
    Ihre Mutter, die in fünf Königreichen für ihre Schönheit bekannt war, hatte drei königliche Freier. Am Karfreitag schenkte einer ihr ein Kaninchen, Symbol der Fruchtbarkeit und der Erneuerung. Der zweite, der dem anderen in nichts nachstehen wollte, schenkte ihr an Allerheiligen eine schwarze Katze, Symbol für den Hexensabbath. An Heiligabend fand man einen Esel, der an einen Baum im Vorgarten angebunden war. Ein Esel in Germantown! Das soll dir eine Lehre sein, sagten ihre Eltern. Aber sie akzeptierte keinen dieser Freier, weil sie wartete. Und dann kam er.
    Raue Hände an ihrer Haut. Hören Sie auf mit dem Lärm, Jennifer, sonst müssen wir Sie wieder in ein Einzelzimmer stecken. Ja. Was soll denn das Gejaule schon wieder? Können Sie sprechen? Heute nicht? Also gut, dann seien Sie einfach still. So. Schsch.
    Aber wenn alles getan ist, wenn das Ende naht, was bleibt einem dann? Sinneswahrnehmungen. Das Wohlbehagen, das man empfindet, wenn man seinen Darm unter hygienischen Bedingungen entleeren kann. Wenn man seinen Kopf auf ein weiches Kissen bettet. Die Erleichterung, wenn nach einer langen Nacht des Zerrens und Reißens die Gurte gelöst werden. Wenn man aus einem Alptraum erwacht und feststellt, dass es ein eigentlich vergleichsweise schöner Traum war. Jetzt, wo es vorbei ist, jetzt, wo das Ende naht, kann sie wieder denken. Sie kann es sich erlauben, sich an Orte treiben zu lassen, an die sie sich vorher nicht gewagt hat.
    Die Visionen machen das Warten leichter. Und was für Visionen! In prächtigen Farben, alle Sinne geschärft. Wiesen voller duftender Blüten, glänzende, sterile Operationssäle, wo alles bereit ist für das Schneiden, geliebte Gesichter, die sie streicheln kann, und weiche Hände, die sie streicheln. Himmlische Musik.
    Jennifer, Ihr Besuch ist da. Zeit zum Aufstehen. Zuerst waschen. Sie kennen die Regeln. Ganz ruhig, kein Geschrei. Lassen Sie Ihre Kleider an. Kein Kratzen oder Schlagen. Ganz genau. Da sind wir schon. Ich setze Sie hierhin. Sehen Sie mal, da ist Ihr Besuch. Sie haben eine Stunde. Dann hole ich Sie wieder.
    Sie kennt diese Person nicht. Mann oder Frau? Sie kann es nicht mehr unterscheiden. Wer auch immer die Person ist, sie sagt etwas.
    Mom?
    Sie antwortet nicht. Sie glaubt, dass etwas passiert ist, etwas Wichtiges, aber sie weiß nicht mehr, was.
    Mom? Weißt du, wer ich bin?
    Nein, nicht wirklich, sagt sie. Aber Ihre Stimme klingt tröstlich. Ich glaube, dass Sie mir etwas bedeuten.
    Danke, dass du das sagst. Die Person nimmt ihre Hand, drückt sie. Das ist beruhigend. Es ist etwas Konkretes in einer Welt der Schatten.
    Sie weiß immer noch nicht so recht, wer dieser junge Mensch ist, aber sie kann nicht allzu lange hierbleiben. Sie muss ein Kaninchen und eine Katze füttern und einen Esel reiten.
    Wie geht’s dir heute? Tut mir leid, dass ich so spät komme. Die Arbeit frisst mich auf.
    Ja, sie weiß, wie die Arbeit einen auffressen kann. Ein Patient nach dem anderen, Knochen, die sich durch die Haut bohren, wie empfindlich der menschliche Körper doch ist, wie leicht zu verletzen und zu brechen und wie schwer wieder zusammenzuflicken. Aber so schludrig darf man doch nicht arbeiten. Wer hat das verbrochen?
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