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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Autoren: Alfred Döblin
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TEIL I
    Sonntag, der 10.November 1918
    Sie blickte mit einer kleinen Kopfbewegung in die Stube zurück. Der Mann saß an seinem Platz am Tisch, die Krücken neben sich, das Käppchen auf dem Kahlkopf, die Zeitung ausgebreitet vor sich. Er putzte sich die Stahlbrille und prüfte das graue Morgenlicht, das durch das Hoffenster hereinfiel. Sie sagte: »Kannst dir Licht machen.« Er: »Wird schon gehen.« Dann zog sie die Tür hinter sich zu.
    Es regnete nicht mehr, aber der Hof stand voller Lachen. Im Hausflur an der Wand, wo es stockfinster war, schürzte sie ihre Kleider, tastete mit einem Fuß herum und stieg in die schweren spitzen Holzpantinen hinein. Sie klapperte ab.
    Der Mann kratzte seine kurze Holzpfeife aus, schnüffelte in eine blecherne Teebüchse hinein und breitete ein paar Griff Tabak auf der Zeitung aus. Die groben Stengel zerknickte er Stück für Stück, einige große Blätter zerbrach er. Dann stopfte er alles fest in den Pfeifenkopf, die Staubreste vom Papier schüttete er oben auf. Dann rauchte er. Und als er die ersten Züge getan hatte, nahm er die Pfeife mit der linken Hand aus dem Mund und sprach laut in den grauen schmalen Raum hinein, wie jeden Morgen, wenn seine Frau weggegangen war. »So. Es ist der 10.November«, und qualmte behaglich weiter. Die Zeitung war vom Achten, der Pfarrer vom Vorderhaus gab sie neuerdings unregelmäßig weiter. Der Mann machte sich, die Arme breit aufgelegt, an die Arbeit und studierte Familiennachrichten, Verkäufe von Mobiliar, Meldung vom Obst- und Gemüsemarkt. Er bewegte die Lippen ein wenig. Manchmal unterbrach er sich, las nochmal, sagte laut: »Kleine Reinetten, zwei fünfzig. Oh, das ist viel«, tat ein paar ernste Züge, sah zum Fenster hin, runzelte die Stirn, seine Frau ging wahrscheinlich jetzt über den Wasserturmplatz, der wird ein Sumpf sein, man müßte ihn pflastern, aber wer hat im Krieg dafür Geld. Er las weiter von den Apfelsorten.
    Die Frau ging wirklich gerade über den Wasserturmplatz. Den braunen Familienschirm klemmte sie unter den linken Arm, der Arm drückte zugleich das große schwarze Umschlagetuch an der Brust fest, das sie über ihren grauen Kopf und die Schultern gezogen hatte. Sie sah nur mit einem Auge durch einen Spalt hinaus. Ihr rechter Arm trug einen Holzeimer, in dem eine breite Holzschippe steckte. Sie näherte sich den Gerüsten am Ausgang des Platzes, man baute schon seit Jahren nicht weiter, die Raben hatten auf den Balken ihr Standquartier, sie flogen von hier nach dem Wald und in die Straßen, die zu den Kasernen führten. Sie streifte sich die Tuchfransen vom Gesicht, um zu sehen, ob die Raben noch auf dem Gerüst saßen. Und als sie suchte und nichts fand, beeilte sie sich, denn das war das Zeichen, sie waren unterwegs.
    In der langen niedrigen Schule an der Straßenkreuzung lagen Rekruten. Das große Tor zum Schulhof war verschlossen. Man hörte schreien, laute Männerrufe. Die Frau, die gerade das Trottoir vor der Schule verließ, horchte hin. Sie runzelte mißbilligend die Stirn, aber hielt sich nicht auf. Sie war auf dem Sprung. Da saßen schon die Raben, den ganzen Damm vor der Schule bedeckten sie und hackten und krächzten, und dazwischen flatterten die grauen Sperlinge, und alle hielten sich an ihre Beute, als wenn es ein Gerstenfeld wäre. Es war der Pferdemist, den sie für ihr Gemüsegärtchen brauchte. Die Frau, noch mißgestimmt über das Schreien der jungen Soldaten, dieser ungezogenen Kinder, hatte schon ihren Schirm in die linke Hand gleiten lassen, ein Windstoß blähte ihr Schultertuch auf, der Knoten auf der Brust löste sich, die alte Frau achtete aber nicht darauf. Sie schlug mit ihrem Schirm auf die Raben ein, die mit wütendem Krächzen an ihr hochflatterten, sie kannten die Alte schon. Die Spatzen stoben in einer Wolke davon und setzten sich abwartend und schimpfend auf die Regenrinne des Schuldaches. Unten auf dem Fahrdamm knotete die Alte, der der Wind die Kleider zerzauste, das Tuch vor der Brust fest, den Schirm legte sie auf die Bordschwelle, den Eimer stellte sie neben sich. Sie schimpfte auf das Rabenpack, das den Pferdemist über den Damm zerstreute, sie schimpfte über diese unmanierliche Art, sich zu sättigen, und ging dann ihren Eimer füllen. Die Raben hielten sich in respektvoller Entfernung. Als sie mit dem Schaufeln fertig war und sich mühselig aufrichtete, saßen die kleinen Räuber, die Spatzen, schon wieder bei den dicken Raben und pickten und lärmten. Sie stieß die
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