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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten
Autoren: Anouk Markovits
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Spuren brachte.
    Sie kam nach Siebenbürgen und stieg am Bahnhof von Satu Mare aus. Auf dem Bahnhofsschild erklärten kleine Buchstaben unter dem Namen, dass der Ort auch einmal als Szatmár bekannt gewesen sei. Atara nahm ein Taxi zum Hauptplatz von Satu Mare/Szatmár, der Piaţa Libertăţii. An rußigen Säulen lehnten grell geschminkte Frauen in winzigen Röcken, sie kreuzten und spreizten die nackten Beine, klapperten mit den hohen Absätzen über den kalten Stein. Atara fragte, ob die Synagoge in Satu Mare noch stehe.
    Ja, aber es gebe keine Gemeinde mehr.
    Sie fuhr weiter zu der Grenze, die während des Kriegs das nördliche Siebenbürgen vom südlichen Siebenbürgen getrennt hatte, dachte an Mila und ihre Eltern, die in der Synagoge eingesperrt gewesen waren und einunddreißig Tage lang immer wieder denselben Koffer gepackt hatten. Sie dachte an die Nacht, in der die Juden von Deseu ihren Fluss verlassen hatten, stellte sich vor, wie die Bauern unter ihnen sich Sorgen machten, weil die Saat noch nicht im Boden war, wie die Mütter von gänseblümchengesprenkelten Wiesen erzählten und die Kinder in den Schlaf sanken, während der Fluss ein letztes Mal, eine letzte Nacht, durch ihre Atemzüge rauschte.
    Atara fand Deseu und den jüdischen Friedhof der Stadt. Sie suchte nach dem Grab von Milas Vater, doch die Grabsteine standen schief, manche waren ganz zusammengefallen, und Atara konnte nicht ausfindig machen, wer wo begraben lag.
    Sie hörte Judiths Klage: Werde ich den Samen Zalman Sterns verderben?
    Sie hörte das Wiegenlied, mit dem Josef sie tröstete: Heia, le, lu, la …
    Ein alter Mann trat aus einem Birkenhain. »Sind Sie Jüdin? Evreu? «
    Der Mann beantwortete sich die Frage selbst: Die Frau, die zwischen den Gräbern stand, konnte nur Jüdin sein. Er lächelte ein zahnloses, verschmitztes Lächeln, und in seinem fadenscheinigen Mantel sang er: »Jadidadidam!«
    Dann breitete er eine gräuliche Serviette auf einem Stein aus und legte darauf seine Waren aus: ein paar Plastikhaarspangen, ein Lesezeichen mit einem Foto der Synagoge, Sicherheitsnadeln, Heiligenbildchen … »Billig, sehr billig!«
    Atara gab ihm einen Geldschein und verließ den Friedhof.
    Sie fand die Linde vor dem Holztor, den Hof mit dem Kuh- und dem Hühnerstall.
    Eine uralte, gebeugte Frau mit schwarzem Kopftuch und in einem schwarzen Kleid schlurfte mit einer Gießkanne in der Hand auf sie zu. »Hallo, wer sind Sie?«, fragte sie.
    »Ich … ich komme … Josef … Josef Lichtenstein …«
    »Psst!« Die Alte legte einen Finger auf die Lippen.
    »Anghel!«, versuchte es Atara noch einmal im Schatten des Lindenbaums, unter dem vor einem halben Jahrhundert Zalman gestanden hatte. »Ich bin gekommen, um von Anghel zu berichten.«
    Die knotige Hand der Frau fuhr in ihre Rocktasche. Sie zog eine zerknitterte Postkarte heraus und hielt sie Atara hin.
    Anghel hatte Florina geschrieben, dass er sie nachholen lassen würde, wenn er die Felder Amerikas gepflügt hatte.
    Die Frau wischte sich durchs Auge und ließ die zerknickte Postkarte wieder in den Falten ihres schwarzen Rocks verschwinden. Dann schaute sie auf: »Hallo, wer sind Sie?«
    Atara erzählte von Anghels Ehe mit der schönen Mila Heller, deren Eltern auf der anderen Seite des Flusses in der Nähe von Cluj gelebt hatten. Sie sprach davon, wie sehr Anghel seine beiden Mütter geliebt hatte.
    Die Frau hob die Gießkanne hoch. Wasser floss aus dem Schnabel, etwas davon landete unter einer eingetopften Nessel.
    Atara öffnete ihre Handtasche und nahm die Brosche heraus. »Anghel hätte gewollt, dass Florina sie bekommt.«
    Unsicher beäugte die Alte die Brosche.
    Atara fragte, ob Florina geheiratet habe, nachdem Anghel gegangen sei.
    Die Frau schaute sie aus umwölkten Augen an. »Hallo, wer sind Sie?«
    Atara trat in den Hof und steckte der Frau die Brosche ans Revers. Die Frau summte leise vor sich hin. Als sie Atara wieder registrierte, fragte sie erneut: »Hallo?«
    Atara machte sich auf den Weg die Straße hinab. Quakende Enten watschelten hinter ihr her, während sie eilig an Türen vorbeiging, in denen Mütter mit fest um die Schultern gebundenen Tüchern standen und durch die Straßen nach ihren Kindern riefen, die heimkommen sollten.

2012
    Williamsburg, Brooklyn
    Mila schreckt in ihrem Stuhl am Wohnzimmerfenster aus dem Schlaf hoch. Sie beugt sich vor und schaut nach draußen. Zwischen den Schläfenlocken und schwarzen Mantelschößen, die auf der Überführung wehen,
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