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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten
Autoren: Anouk Markovits
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zu lassen, dass der von ihr so verehrte Josef beschlossen hatte, nie wieder über die Sache zu sprechen. Mila stellte sich auf die Zehenspitzen und suchte zwischen den Kinderwägen und Müttern nach Judith. Sie überquerte die Straße zum gegenüberliegenden Gehweg und lief von einer Straßenecke zur nächsten.
    Die weißen Kopftuchzipfel der Mütter flatterten in der Spätsommerbrise. Mila eilte an Landaus Lebensmittelgeschäft und dem schmalen Laden für Judaica vorbei. »Judith! Judith! Judith!«
    *
    Judiths Schuhe – die ersten mit Absatz, angeschafft für das erste Treffen mit Yoel – klapperten übers Straßenpflaster. Klick-klack-klick-klack, ein kale-mejdl rennt nicht, ein Mädchen im heiratsfähigen Alter weiß sich zu benehmen. Können zum Fest der Gesetzesfreude, an dem jeder getanzte Schritt ein Gebet ist, auch die Schritte eines Mamsers die Krone des Herrn schmücken? Klick-klack-klick-klack, Judith rannte vor ihrem verbotenen Ich weg, vor dem Mädchen, das Yoel für alle Zeiten verboten sein würde, einem Mädchen, das nur Verbotenen erlaubt sein würde. Eine durchweichte Zeitung leckte an ihrem Fußgelenk, sie schüttelte das Bein, aber das nasse Papier haftete an ihrer Wade. Über ihr auf den hochgelegten Schienen ratterte ein Zug näher – Züge waren am Fest der Gesetzesfreude verboten, doch Judith umklammerte die Eisenstäbe des Ausgangstors, sie drückte, zog und rüttelte, eine Stimme rief etwas aus der Kabine, sie rüttelte noch fester an dem Eisengitter, drückte und zog, da summte das Tor und sprang auf. Sie hörte jemanden schreien, das Donnern über ihr, aber klick-klack-klick klapperten die neuen Schuhe die Treppe hinauf, und die breiten grauen Stufen bebten unter ihren Absätzen – Judith drehte sich dem grollenden Ungetüm entgegen, den beiden Hörnern aus Licht:
    יננה
    Hineni, hier bin ich.
    Hier bin ich, zwischen dem Licht und den Bahnschwellen, in einer Wiege aus Staub, denn Staub bist du, und Judith riss die Arme zurück, als ihr Rumpf vorschoss, ihre Knie sich beugten, erst die Fersen vom Boden abhoben und dann die Zehen und Judith vom Bahnsteig tanzte.
    Sie landete mit den Fußballen auf der ersten Schiene. Ihre Arme ruderten, sie fand ihr Gleichgewicht wieder und neigte sich den beiden leuchtenden Linien zu.
    Ein durchdringend lautes Hupen, sie sah den rauchenden Berg, sah das Knallen und Blitzen, als der Donner des Gesetzes sie traf …
    Der Zug blieb in der Mitte der Haltestelle stehen. Zwei Männer, die es mitangesehen hatten, näherten sich langsam der Stelle, an der das Mädchen gestanden hatte. Am Rand des Bahnsteigs lag ein schwarzer Schuh.
    *
    Noch vor der siebten Runde hörte Josef von Judiths Ende.
    Seine geöffneten Augen waren graugrüne Wolken. Die Hand auf die Brust gelegt, trauerte er um den Widder, den der Herr gewählt hatte, trauerte, bis sein Herz zu schlagen aufhörte.
    *
    Sobald die drei Sterne am Himmel zu sehen waren, begannen die Frauen von der Begräbnisbruderschaft mit der rituellen Waschung von Judiths Überresten. Sie wuschen den Staub und den Dreck und die Körperflüssigkeiten ab und hüllten die Überreste in ein Leichentuch aus weißer Baumwolle.
    Die Männer von der Begräbnisbruderschaft führten die rituelle Waschung von Josefs Leichnam durch und kleideten ihn in weiße Baumwolle.
    Die Frauen von der Begräbnisbruderschaft kamen, um Milas Kleid über ihrem Herzen zu zerreißen.
    Im doppelten Trauerhaus machte sich der nicht abreißen wollende Strom von Besuchern Gedanken über den unerklärlichen Tod der Siebzehnjährigen: Man hatte Menschen von draußen in der Nachbarschaft gesehen, eine Frau habe versucht, Mila und Judith in die Synagoge zu folgen. War Judith entführt worden? Hatte Judith versucht zu flüchten und war dabei auf die Schienen gestürzt? Wie sonst konnte ein Mädchen aus Williamsburg an einem Heiligen Tag in die Nähe eines Zugs geraten? Baruch dajan emet, Gelobt sei der Richter der Wahrheit.
    Und Josef? Josef, der die Nachricht über den Tod seiner Enkelin nicht ertragen hatte – Gelobt sei der Richter der Wahrheit.
    *
    Bei Judiths Mutter Rachel setzten die Wehen ein, als sie hörte, dass der Herr ihr am selben Tag die Erstgeborene und den Vater genommen hatte.
    Rachel gebar ihr elftes Kind, ihren sechsten Sohn.
    Zalman entschied, dass es zulässig sei, den Trauernden Masl-tow zu wünschen, denn die Geburt eines Kindes war etwas Gutes.
    Ein kleines Mädchen fand neben einem Gebetbuch auf der Frauenempore Judiths
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