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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten
Autoren: Anouk Markovits
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so sehr um die Abstammung geht, Welten, in denen Eltern ihre Kinder bedingungslos lieben können …«
    Judith schlug sich die Hände über die Ohren. »Ich will keine apikorses hören.«
    »Ich stecke dir jetzt einen Schlüsselbund in die Jackentasche. Bleib bei mir, Judith.«
    »Mein nißojen, meine Prüfung ist es, HaSchem näherzukommen, nicht denen, die ihn verraten haben.«
    »Du brauchst Zeit …«
    Judith streifte wieder durchs Loft. »Ich brauche keine Zeit, ich brauche das Gegenteil.« Sie blieb vor der Uhr am Backofen stehen. »Schon halb neun?« Sie lief zur Garderobe. »Großvater Josef wartet.«
    »Dann hast du Josef doch noch gesehen?«
    »Noch nicht. Ich habe zu Großmama Mila gesagt, dass ich zu dir nach Manhattan gehe, wenn sie mir verspricht, dass ich dann am anderen Morgen Sejde sehen und ihn zur Synagoge bringen darf.«
    »Josef geht es gut genug, um die Synagoge zu besuchen?«
    »Er will hören, wie Zalman Stern den Gottesdienst leitet.« Judith fuhr mit ihren dünnen Armen in die Jackenärmel und eilte zur Wohnungstür.
    Atara griff nach einem Schal und rannte hinter ihr her.
    Judith lief in Richtung Osten, nach Williamsburg. Den Verkehr ignorierte sie. Atara packte Judith mit einer Hand unterm Ellbogen, während sie sich mit der anderen die Haarsträhnen unter den Schal steckte.
    Sie betraten die Brücke. Autos zischten vorbei. Züge hielten scheppernd an und fuhren wieder weiter. Während einer Pause im Verkehrsgetöse fragte Atara, ob Judith auch an ihren Verlobten gedacht habe. Was würde Yoel von ihr erwarten?
    »Yoel will, was HaSchem will«, erwiderte Judith.
    Unten auf dem Wasser dröhnte das Horn eines Schleppkahns.
    »Aber es gibt Hinweise darauf, dass dieser … dass dieser Status nicht mehr zutrifft, weil dein Großvater so lange nichts gesagt hat.«
    »Der Name meiner Mutter hätte in dem Register stehen müssen, das von den Rabbinern geführt wird, dem Register der Verbotenen, die nicht in unsere Gemeinde heiraten dürfen.«
    »Doch wenn es laut Gesetz jetzt zu spät ist … Gerade du glaubst doch an das Gesetz und willst dich daran halten. Wir werden im Gesetz nachsehen …«
    »Wir werden nachsehen? Wir werden entscheiden? Ein Gerichtshof muss entscheiden.«
    »Es gibt Einrichtungen, jüdische Einrichtungen, in denen du selbst im Gesetz nachschlagen kannst.«
    »Ich habe doch schon gesagt, dass ich alles in den Büchern meines Vaters gelesen habe.« Judith umklammerte das Geländer des orangefarbenen Zauns. Sie versuchte, auf den Fluss hinabzuschauen, doch die Fahrbahnen, Zuggleise und Schutzgeländer unter ihr versperrten den Blick aufs Wasser: Leere – nichts schien Williamsburg mit Manhattan zu verbinden. »Bei der Beschneidung eines Mamsers soll das Gebet kayem at hayeled hazeh (Schütze dieses Kind) ausgelassen werden . Im Schulchan Aruch heißt es: Ein mevakshim alav rachamim (Wir bitten für ihn nicht um Erbarmen). Wir bitten nicht um das Leben dieses Kindes.«
    »Judith, so kann das nicht gemeint sein!«
    Judith drehte sich um und nahm Ataras Hand. »Ich weiß, dass du mir nur helfen willst, und ich sehe, dass du kein schlechter Mensch bist, du bist nur fehlgeleitet.« Judith streichelte Ataras Hand wie eine Mutter, die ihr Kind tröstet, dann riss sie sich los und lief weiter in Richtung Williamsburg.
    Atara hastete hinter ihr her. Mit jedem Schritt, den Judith in Richtung Williamsburg ging, entglitt sie ihr mehr. Die Nähe, die im Loft und sogar noch vor ein paar Sekunden möglich schien, schmolz dahin. Trotzdem hoffte Atara, Judith doch noch an einen ruhigen Ort bringen zu können. Dort sollte sie riechen, wie die Erde nach dem Regen duftete, hören, wie die Vögel wieder sangen, und sehen, wie die Welt sich erneuerte.
    Judiths Lippen bewegten sich im Rhythmus ihrer schnellen Schritte. »Ich bin verboten, und verboten sind meine Kinder und Kindeskinder, männliche wie weibliche, bis ins zehnte Geschlecht. Ich bin …«
    Als sie die Treppe der Fußgängerüberführung hinabstiegen, bewegten sich ihre Lippen immer noch. Kurz bevor sie den Gehsteig erreichten, blieb Judith stehen, um sich die dicken Strümpfe hochzuziehen, damit sie wieder ordentlich aussah.
    *
    Ein Schatten schälte sich von der Wand. Ein für die Jahreszeit viel zu schwerer Mantel schlotterte um die Schultern seiner Trägerin. Der grobe, synthetische Stoff betonte die Blässe ihres Gesichts.
    »Mila?«, flüsterte Atara.
    Milas Blick wanderte von Atara zu Judith. Hatten sie eine Lösung
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