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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten
Autoren: Anouk Markovits
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reagierten diese nur mit Warnungen: Es könne zu viel für Vaters Herz werden, ob sie nicht schon genug Schaden angerichtet habe?
    Als sie sich der Synagoge näherten, krampften sich Ataras Hände unwillkürlich um Judiths und Milas Ellbogen. Vielleicht würde sie in wenigen Minuten ihren Vater in seinem Gebetsschal sehen, vielleicht würde Zalmans Gesang Judiths zerrissenes Herz erreichen. In dem Moment, als Mila, Atara und Judith in die Synagoge treten wollten, stellte sich ihnen eine hochschwangere Frau in den Weg.
    »Is si a Jid?«, fragte die Frau. (Ist sie Jüdin?)
    »Wer?«, erwiderte Mila.
    Die Frau blickte Atara an.
    »Awáde!« (Natürlich!)
    »Si set nischt ojß wi a Jid.« (Sie sieht nicht wie eine Jüdin aus.)
    »Óber awáde is si a Jid.« (Aber natürlich ist sie Jüdin.)
    »Un woß is mit ir lewúsch un mit ir tichl? Si is nischt znießdik. Si ken nischt arájn gejn.« (Und was ist mit ihrem Kleid und ihrem Kopftuch? Sie ist nicht tugendhaft. Sie kann nicht reingehen.)
    Atara blickte auf ihren Rocksaum hinab. Hatte sie sich nur eingebildet, dass er übers Knie reichte?
    Die schwangere Frau starrte auf Ataras Halsausschnitt. Ataras Hand fuhr zum Schlüsselbein hoch, mindestens ein Zentimeter Haut war entblößt. Sie hätte Milas Angebot annehmen und ein Halstuch tragen sollen.
    »Kennst du sie?«, fragte die Frau Mila.
    »Natürlich«, erwiderte Mila ungeduldig. »Sie ist Reb Zal… Sie war … sie ist … Warte, Judith, warte auf mich!«
    Atara ließ Milas Arm los. »Geh allein mit ihr.«
    Mila zögerte.
    »Geh«, drängte Atara, »lass sie nicht allein. Sag ihr, dass ich auf sie warte. Nun geh schon!«
    Mila eilte in die Synagoge.
    Zögernd blieb Atara vor der wütenden Frau stehen, die immer noch auf den Ausschnitt ihres Kleides starrte. Vielleicht war es falsch, Zalman in diesem unangemessenen Aufzug begrüßen zu wollen. Zalman würde eine unschickliche Kopfbedeckung und einen Zentimeter entblößtes Schlüsselbein sofort bemerken, außerdem durfte sie sich nicht mit Judith zusammen sehen lassen, denn dann wäre ihre Wohnung in Manhattan kein Zufluchtsort mehr, an dem sich das Mädchen verstecken konnte. Atara trat zurück. Sie lauschte konzentriert, ob sie Zalmans Stimme in der Synagoge hören konnte, dann bahnte sie sich einen Weg durch die Kinderwägen – nicht weinen, nicht bevor sie um die Ecke gebogen war, nicht schluchzend gesehen werden, nicht in dieser Straße, nicht als vierundsechzigjährige Frau, die ein unschickliches Kopftuch und einen Kragen trägt, der einen Zentimeter kürzer ist als erlaubt.
    *
    Judith erreichte die erste Reihe der Frauenempore. Würde sich für sie alles klären, wenn sie ihren Verlobten sah? Sie drückte ein Auge an das Holzgitter.
    Zalman Stern schüttelte gerade Großvater Josefs Hand. Zalman Stern, der aus Paris gekommen war, um der Trauung seines Enkels vorzustehen, ihrer Trauung. Und dort waren ihre Brüder, und dort, hinter Großvater Josef, war ihr Yoel – Bitte, Gott, ist Yoel Stern mir baschert? Führe mich, HaSchem: Können Yoel Stern und Judith Halberstamm ein rechtmäßiges Paar in Israel sein? Wenn Du schweigst, HaSchem, darf dann auch ich schweigen?
    Zalman trat aufs Podium.
    Josefs Hand fuhr zum Herzen hoch, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht.
    Judith umklammerte das Holzgitter. Starb Großvater Josef?
    Zalman erhob seine Stimme. »Gepriesen seist Du, Ewiger …«
    Josef lehnte sich zurück und legte den Kopf auf das Kissen, das seinen Rücken im Rollstuhl stützte. Seine Augen schlossen sich.
    Zalmans Töne stiegen höher und höher, und die Stimmen der Männer schwollen an vor Sehnsucht. Die Frauen auf der Empore begannen zu schluchzen. Zalmans Töne schraubten sich noch höher und schürten Judiths Verlangen, rein und weiß und ihrem Schöpfer ganz nah zu sein. Ganz nah wollte sie der Wärme der Göttlichen Gegenwart sein. Ihre blassen, bläulichen Augenlider schlossen sich wie ein Buch.
    Der Gesang brach ab, Judith öffnete die Augen.
    Zalman Stern stieg vom Podium. Die Männer bildeten einen Kreis um Zalman und Josef, einen Kreis aus Tanz und Gesang. Zalmans Hand ruhte auf Josefs Schulter; Josefs Hand legte sich über Zalmans Hand; Yoel schob Josefs Rollstuhl – und so drehten sie sich einmal durch den Raum.
    Zalman kehrte auf das Podium zurück und wandte sein Gesicht dem Herrn zu. Mit ihm drehte sich die ganze Gemeinde um und wandte sich dem Herrn zu – die Männer unten im Saal und die Frauen oben auf der Empore. Wieder erhob sich
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