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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten
Autoren: Anouk Markovits
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sechsundzwanzigsten und siebenundzwanzigsten Namen heraus, als wäre die Gabe des Herrn ein persönliches Verdienst.
    Zalman holte ein zweites Mal Luft und tauchte zum dritten Mal unter.
    »Fünf Jahre alt, und unser Sohn spielt mit Murmeln, statt zu studieren?«, dröhnte die Stimme seines Vaters.
    Als der Lehrer das Zimmer verließ, waren Zalman und die anderen Jungen aufgesprungen, um Walnüsse zur Wand zu schnipsen und zu sehen, wer am weitesten kam.
    Die Sorgen des Vaters; das Schweigen der Mutter.
    Zalman ließ sich tiefer zum Grund des kleinen Beckens sinken, bis er drei Jahre alt war, ein Kind mit eigenen Kinderpflichten. Der Vater hatte ihm die Haare geschoren und nur zwei Schläfenlocken stehen lassen. Er trieb wieder hoch und buchstabierte als Zweijähriger seine ersten Worte, worauf Rosinen und Mandeln vom Himmel regneten. Er war eins und leckte unter den Küssen seiner Mutter die mit Honig bestrichenen hebräischen Buchstaben ab. Zalman stieg aus dem Wasser.
    Neugeboren.
    Jetzt konnte er seine Gebetsriemen anlegen und Ihn anflehen: Gedenke des Bundes mit Isaak und Deines Versprechens an Abraham. Tue es für sie, nicht für mich: Bezwinge, töte und vernichte die Lilin, die ich durch die Tropfen, die mir unversehens entkamen, hervorgebracht habe …
    Der Herr erhörte Zalmans Flehen. Es gab keine nächtlichen Ergüsse mehr, weder während der Bußtage, die zum Versöhnungstag führten, noch in der Zeit zwischen dem Versöhnungstag und dem Laubhüttenfest. Zalman konnte wieder jedem Menschen in die Augen sehen. Und am Abend von Simchat Thora, dem Fest der Gesetzesfreude, tanzte Zalman. Noch nie hatte er die Gegenwart des Herrn so intensiv gespürt.
    Am Vorabend hatten die Chassidim bis zum Sonnenuntergang über Hitler und Stalin diskutiert, die durch sämtliche Zeitungen marschierten. Zehn Tage zuvor war Warschau gefallen, Polen war geteilt worden, doch am Fest der Gesetzesfreude tanzten die Chassidim. Sie reckten die rechten Arme hoch, schwenkten sie hin und her und trommelten in der Luft, die um die Thorarolle kreiste, um die ihre Jahre kreisten. Und mit jeder Runde kamen ihre Körper den Seelen näher.
    Der Rebbe führte den Tanz an und warf den Kopf von Seite zu Seite. Hinter seinen geschlossenen Augen sah er Wunder, die Worte nicht fassen können. Er machte einen Sprung, und mit ihm sprangen die Herzen der Versammelten.
    »Schaddai! Méjlech! Netzach!«, intonierte der Rebbe.
    Das Kreisen hielt inne, als die Namen des Herrn über den ehrfürchtig emporgewandten Gesichtern der Chassidim schwebten. Sie erschauerten.
    »Aj aij aiii!«, rief der Rebbe.
    »Aj aij aiii aiii«, antworteten die Chassidim. Sie reihten Ton an Ton, summten Melodien ohne Worte und Bedeutung, ihre wirbelnden Schläfenlocken silberne Ströme vor den Himmelspforten, die zur siebten Runde an diesem Abend sicher aufschwingen würden.
    Der Assistent flüsterte dem Rebbe etwas ins Ohr, und als der Rebbe nickte, rief er: »›Adir Kevodo‹ wird von Zalman Stern gesungen!«
    Es war eine große Ehre, am Hof des Rebbe vorsingen zu dürfen, eine ungeheure Auszeichnung für einen unverheirateten jungen Mann, doch Zalman war nicht nur ein Wunder der Thoragelehrsamkeit, er hatte auch die schönste Stimme östlich von Wien.
    »Psst! Ruhe!«, rief der Assistent.
    Zalmans Stimme erhob sich, die Töne stiegen konzentriert aus dem Rumpf auf, wie er es von seinem Vater, dem Kantor von Temesvar, gelernt hatte. »Sein großer Name sei gepriesen …«
    Die Melodie sank tief in den Bass, um sich dann hoch und höher zu schrauben und das Verlangen der Männer, sich aus dem Gefängnis ihrer Körper zu befreien, noch mehr anzufeuern. Die anderen stimmten in den Refrain mit ein und hörten erschrocken, wie sich die Vielfalt ihrer falschen Töne über Zalmans perfekten Gesang legte.
    Wieder erhob sich Zalmans Stimme.
    Nachdem der letzte lang gezogene Ton verklungen war, blieb es still, bis der Rebbe ein »Aj Mamale aj!« anstimmte.
    Alle gaben sie sich dem Tanz hin: die Jungen, die Männer in den besten Jahren und die Alten mit ihren weißen Bärten. Sie hielten die Thorarollen umschlungen und hüpften im Kreis, in dem sich Vergangenheit und Zukunft ineinanderschoben, bis sie sich, von Schläfenlocken umrankt, wieder zurückdrehten zu »Am Anfang«.
    Der Morgen graute bereits, als die Männer die Synagoge verließen.
    Zalman Stern und sein Studienfreund Gershon Heller gingen zusammen. Mit jedem Schritt zollten die beiden jungen Männer der Gegenwart des
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