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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten
Autoren: Anouk Markovits
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sie es offen über der Bluse. Seine Hand fuhr an die frischen Stoppeln, wo früher seine Schläfenlocken gewesen waren. Nie wieder würde seine stolze Mama sie auf Wickler drehen, während er die Abendgebete sprach.
    Als es zum dritten Mal Nacht geworden war, hielten sie vor einem Holztor an.
    »Der Hof meiner Mutter«, sagte Florina.
    Ein Bauer hielt seine Laterne über den mit Möbeln vollgepackten Karren. Er grinste.
    »Sie haben uns lange genug ausgeraubt«, sagte Florina.
    Der Mann schob sein Stoppelkinn vor Florinas Gesicht. »Hast du es gesehen, unterwegs?«
    Florina bekreuzigte sich. »Der Boden wölbte sich … bekam Risse … Wir haben Stöhnen gehört und …«
    » Prostie – dumm! Sie sollten dafür sorgen, dass sie tot sind; sie sollten die Leichen erst kalt werden lassen.« Wieder hob der Knecht seine Laterne über die Ladefläche des Karrens. »Hattest du keine Angst?«
    »Und wie! Die Bäume waren hinter uns her …«
    »Ich meine, Angst davor, für sie zu arbeiten. Weißt du nicht, dass die Juden Christenfrauen verkaufen?«
    Florina lachte. »Nicht die Juden, für die ich gearbeitet habe.«
    Er grunzte verärgert. »Ich hätte nicht gedacht, dass du zurückkommst.«
    Schweigen.
    »Hilf mir mit meinem Jungen«, sagte Florina. »Er schläft.«
    »Mit deinem was ?«
    »Psst!«
    »Du hast geheiratet?«
    »Ich musste.«
    »Und sein Vater …«
    »Ist tot«, sagte Josef.
    Als sie den Jungen in die Küche trug, blickte Florina über ihre Schulter zurück. »Ziehe niemals vor einem anderen Menschen deine Hose aus«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Niemals!«
    Der Junge starrte auf die Brosche seiner Mutter, die an Florinas Schürze steckte.
    »Mama ist tot«, sagte er.
    »Psst!«
    Florina zog einen ihrer Röcke aus. Sie zog sich nie ganz aus, hatte kein weißes Nachthemd und keine blassblau gesteppte Bettjacke. Florina las nicht im Bett, denn sie konnte nicht lesen. Sie nahm ihr Kopftuch ab, das schwarz war, seit sie ihn Anghel, meinen Sohn, Vater an der Front in Odessa gefallen, nannte. Das Bett gab nach, als sie sich darauf setzte. Eine weiche Kuhle entstand, durch die er auf sie zurutschte, bis er an ihrem breiten Rücken zum Liegen kam. Seine Füße schoben sich zwischen ihre Unterschenkel.
    So kuschelten sich Florina und der Junge im Himmelbett, das in der Küche stand, zur Nacht zusammen. Unter der Daunendecke, in der er noch immer den Schlaf seiner Mutter roch, sang Florina ihm ein Wiegenlied: »Du sollst leben. Mama will, dass Anghel lebt …«
    Florina und der Junge bahnten sich einen Weg durch die Rohrkolben. Kirchenglocken hallten über das Feld. Florina blickte sich um und blieb stehen.
    »Du sitzt, wenn ich sitze, du stehst, wenn ich stehe, und wenn der Pfarrer dir eine Oblate auf die Zunge legt, bittest du Jesus Christus um Vergebung. Bald gehen wir an den Fluss, dann musst du nicht länger Jude sein.« Sie lächelte. »Wenn du getauft bist, kommst du in den Himmel.«
    »Im Himmel werde ich Mama sehen.«
    »Psst!«
    Schweigend liefen sie weiter durchs hohe Gras.
    Jeden Sonntag schritt der bärtige Pfarrer mit einem schwingenden Weihrauchfass an den Kirchenbänken entlang. Mit jedem Schwung entstiegen dem Gefäß würzige Myrrewolken, hinter denen sich die schwarzen Talarärmel wie Flügel aufplusterten. Die Wände erstrahlten im Licht, die Augen der Ikonen glichen Bienenpelzen: Im Jubel der Eucharistie … im Glück der Auferstehung, in Brot und Wein … entzünde der Herr in uns die Glut Seiner Liebe!
    Als Leib und Blut des Herrn auf Anghels Zunge lagen, weinte Gott Tränen aus Gold, und Anghel lernte, dass die Juden selbst schuld waren an dem, was ihnen geschah, weil sie sich weigerten, das Licht zu sehen.
    Winter. Frühling.
    Als Florina zum Melken ging, machte sich Anghel mit der Daunendecke auf den Weg. Er pflückte Gänseblümchen, Anemonen, Glockenblumen und Hahnenklee und stellte den Strauß, wie er es bei Florina gesehen hatte, unter das Feldkreuz hinterm Gemüsebeet.
    »Pearela«, flüsterte er und starrte auf die rotbraunen Rinnsale auf Jesus’ knochigen Füßen. Die knotigen Knie und dürren Schenkel hatten keinerlei Ähnlichkeit mit den pummeligen Gliedmaßen seiner kleinen Schwester, doch die von Nägeln durchbohrten Hände schienen etwas von Pearela und der Zinke in ihrer Backe zu wissen. Er wickelte das eine Ende der Daunendecke um die dünnen Fußgelenke und rostigen Nägel und deckte sich mit dem anderen selbst zu.
    »Heia, heia, lu, le, la«, summte er leise.
    Als Florina die
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