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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten
Autoren: Anouk Markovits
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und Rachel?« Sie zog die Kleine in ihre Arme. »Zalman! Komm schnell her!«
    Das Mädchen brach zusammen.
    Noch oft sollte Hannah die Geschichte von der kleinen Mila erzählen, die einfach an die Tür klopfte: Dank sei dem Herrn, der über das Kind gewacht hat! Wie sonst hätte ein so kleines Mädchen den richtigen Zug finden können? Und den Weg vom Bahnhof zum Haus der Sterns? Hannah erzählte so oft, wie sie den Dreck aus Milas Haar gewaschen und die dicken schwarzen Ränder unter Milas Nägeln weggekratzt hatte, dass selbst ihre später geborenen Kinder glaubten, sich an den Tag erinnern zu können, an dem die fünfjährige Mila Heller plötzlich vor der Tür stand.
    Hannah erzählte auch von Milas Stummheit. »Was ist mit deinen Eltern passiert, Kind?«
    Den ganzen Sommer lang sprach Mila Heller kein einziges Wort, doch nachts weinte sie im Bett, das sie sich mit Atara teilte, und Atara hielt ihre Hand.
    Am Vorabend des Versöhnungstags ließ Hannah dreimal einen Hahn um die Köpfe der Jungen kreisen und eine Henne um die Köpfe der Mädchen. Dann legte sie das laut gackernde Tier auf den Boden. »Stell deinen Fuß auf ihren Hals«, wies sie Mila an.
    Mila schüttelte den Kopf. Nein.
    »Das kennst du doch bestimmt noch von zu Hause«, sagte Hannah. »Du musst nicht fest zutreten. Streich einfach mit dem Fuß über ihren Kopf und sprich mir nach: Für dich den Tod und für mich das Leben … nun mach schon.« Ihre Stimme wurde weicher. »Du musst es nicht laut sagen, mein Kind, denk es dir einfach.«
    Milas Augen füllten sich mit Tränen.
    »Warum muss das Huhn sterben?«, rief Atara.
    »Damit keine Kinder sterben.« Noch einmal legte Hannah das Huhn auf dem Boden zurecht.
    Mila starrte auf das schreckgewölbte Auge der Henne. Zitternd streckte sie ein Bein vor.
    Hannah sprach ihr vor: »Für dich den Tod … «
    Mila zog ihr Bein zurück.
    »Warum muss das Huhn sterben?« Atara ließ nicht locker.
    »Damit nicht wir für unsere Sünden sterben. Das Huhn ist unser Kapores . Es wird stellvertretend für uns sterben.« Hannah blickte ihre Tochter streng an.
    Atara runzelte die Stirn. »Ich dachte, wir haben unsere Sünden schon im Fluss versenkt?«
    Hannah seufzte und steckte das Huhn zurück in den Käfig. Dann trocknete sie Mila mit dem Schürzenzipfel die Tränen und ihre eigenen auch.
    Abends im Bett hielt Atara, die sich noch immer über die Nähe des Waisenkinds, mit dem sie das Bett teilte, wunderte, die Luft an. In der Dunkelheit begann Mila zu sprechen. »Atara ist ein schöner Name.«
    Mila hatte gesprochen. Sie hatte mit Atara gesprochen.
    Von dem Tag an sprach Mila jeden Abend mit Atara. Am Tag blieb sie stumm, doch in der Dunkelheit unterhielten sich die beiden Mädchen. Atara erfuhr von Milas ungeborenem Geschwisterchen und dass Milas Mutter auf den offenen Viehwagen zugerannt war und dabei »Rebbe!« gerufen hatte.
    Und später erfuhr sie, dass Mila mit sich übereingekommen war, Hannah lieben zu dürfen.
    Eines Abends, Atara war schon fast eingeschlafen, fragte Mila: »Glaubst du mir, dass meine Mama losgerannt ist, um den Rebbe zu retten?«
    Atara schwieg. Einmal, als Mila nicht in der Nähe war, hatte Zalman gesagt, Milas Mutter könne den Rebbe unmöglich gesehen haben. Viehwaggons hätten keine offenen Türen, schon gar nicht, wenn sie mit Juden vollgepfercht waren, schon gar nicht im Frühjahr 1944 in Ungarn.
    »Aber du, Atara, du glaubst mir doch?« Mila gab nicht auf.
    »Ich … vielleicht sollten wir jetzt beten, dass der Messias bald kommt.« Atara betete gerne mit Mila zusammen. Sie wusste, dass der Messias in Milas Gebeten nicht in der Herrlichkeit des wiedererbauten Tempels erschien, sondern in einer Küche, in der Milas Mutter stand, oder an einem Bett, an dem ihr Vater saß und seine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt hatte.
    *
    Vier Monate nachdem Mila bei den Sterns aufgetaucht war, wurde ihre Heimatstadt von sowjetischen und rumänischen Truppen zurückerobert. Sobald Juden wieder reisen konnten, machte sich Zalman auf den Weg. Er wollte alle Orte kennzeichnen, an denen Juden begraben lagen, denn ihre Gebeine sollten ungestört ruhen, insbesondere der kleine Luz-Knochen, der Hals und Rückgrat verband und den Tau der Auferstehung als Erster spüren würde, wenn die Trompeten das Ende der Tage verkündeten.
    Zalman fand das nördliche Siebenbürgen überraschend leer vor. Er betete: »Gütiger Herr, lass mich wissen, warum Du mich verschont hast, lass mich wissen, zu welchem
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