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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner
Autoren: Kaminer Wladimir
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bedrohten Konsumenten, die den ganzen Tag im Kaufhaus verbringen und selbst irgendwann zu Zombies werden, voll aufgegangen. Viele Faktoren haben dabei mitgespielt: die hohe Arbeitslosigkeit, teure Wohnungsmieten, der Mangel an für Spaziergänge geeigneten Parkanlagen und wechselhaftes Wetter. All das hat dazu beigetragen, dass viele Menschen bereits in den »Schönhauser Allee Arkaden« wohnen. Sie kommen morgens als Erste und gehen abends als Letzte. Ihre Gesichter sind mir vertraut, wir begrüßen uns schon. Man kann in den Arkaden wunderbar die Zeit zwischen dem Morgen und dem Abend überbrücken. Das geschäftige Treiben sorgt für Anonymität, man kann unbeobachtet durch die Läden ziehen, in den Buchhandlungen auf gemütlichen Sofas sitzen und in Büchern blättern oder in den Lebensmittelgeschäften neue Leckereien probieren, für die gerade geworben wird. Manche Shoppingcenter-Bewohner nehmen sogar eine Gratisstunde im Fitnesscenter in Anspruch, flüchten dann aber, weil sie wahrscheinlich unpassende Unterwäsche anhaben, die zum Sportunterricht nicht taugt.
    Oft wird in dem unteren Stock eine Bühne aufgebaut: Der Schönheitswettbewerb »Miss Schönhauser Allee Arkaden« findet dort statt, die Kindergartengruppe »Freche Früchtchen« tanzt vor dem Kaisers-Eingang, oder eine Rentnerband mit Sombreros auf den Köpfen spielt die alten Zombie-Schlager. Solche Veranstaltungen habe ich in Westberliner Shoppingcentern noch nie gesehen.
    Die kleinen Läden neben den großen Kaufzentren haben es bei uns nicht leicht. Sie müssen täglich ums Überleben kämpfen. Besonders die Kleiderläden sind sehr zarte Pflänzchen. Dabei sprießen sie an den belebten Straßenkreuzungen wie Pilze aus dem Boden, immer mit einer pfiffigen unkonventionellen Modeidee: Entweder bieten sie Frauenunterwäsche in Übergrößen an oder hundert Variationen eines Federhuts, manchmal auch eine Modekollektion des Vorjahres zum halben Preis. Aber kaum ist die Farbe auf den Plakaten trocken, die eine »Neueröffnung« verkünden, schon werden sie gegen die Aufkleber »Alles muss raus« und »Räumungsverkauf« ausgetauscht. Diese Läden sind die Rock’n’Roller der Branche: Sie leben schnell und sterben jung.
    Richtig alt wird in Berlin nur Humana, diese übel riechende Abstellgarderobe unserer Zeit. Ab und zu schaue ich dort vorbei, atme die saure Luft, diesen gebügelten Schweiß der Geschichte, und frage mich: Was sie wohl heute treiben, all jene, die einst in diesen Klamotten steckten? In der Broschüre mit den Antworten auf die »am häufigsten an Humana gestellten Fragen«, die am Eingang ausliegt, wird diese Frage nicht berücksichtigt. »Warum heißt Humana Humana? Warum wird jedes zweite Kleidungsstück nach Afrika geschickt? Was tun wir für arme Menschen?« – das interessiert angeblich die meisten. Ich denke aber über die vielen ehemaligen Inhaber der Hawaiihemden nach, der T-Shirts und Höschen mit amerikanischen Flaggen: Ob sie inzwischen alle antiamerikanisch geworden sind?
    Gleich neben den Hawaiihemden hängen fuchsiafarbene Anzüge. In diesen Anzügen haben die ersten Selbstständigen einst die DDR privatisiert. Sie riechen noch immer nach Gier. Ich möchte die Fuchsiamenschen von damals fragen: Wie geht’s? Auch beunruhigt mich das Schicksal des ehemaligen Inhabers eines roten Motorradanzugs inklusive Helm, der ein kleines rundes Loch auf der Rückseite hat. Auf dem Ärmel steht »Hein Gericke«. Nach seinem Helm zu urteilen, ist er auf einem Motorrad als Sancho Pansa rückwärts gegen seinen Don Quichotte gefahren. Ich hoffe, es geht ihm gut.
    Wie geht es aber den Exträgern von zwanzig Lederhosen der Marke Uli Knecht? Mischen sie auf dem aktuellen Christopher-Street-Day immer noch kräftig mit, oder sind sie längst in Rente gegangen? Und wie haben sie es geschafft, ihre Hosen alle in einen gleich erbärmlichen Zustand zu bringen? Waren sie untereinander befreundet? Haben sie gemeinsame Ausflüge in die Natur gemacht? Sind sie auf dem Bauch um die Wette durch Mecklenburg gekrochen?
    Und wo befinden sich eigentlich die »Eichsfelder Bekleidungswerke Heiligenstadt«, die diese blauen FDJ-Hemden produzierten? Und was nähen sie dort jetzt? Vielleicht Bundeswehrjacken, die noch vor einigen Jahren ein Drittel des Humana-Raumes beanspruchten. Inzwischen sind viele Bundeswehrjacken aus Berlin nach Osteuropa ausgewandert. Ich habe sie auf den Straßen von Zagreb, Moskau und sogar Samarkand gesehen – im Fernsehen. In Kroatien
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