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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner
Autoren: Kaminer Wladimir
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beantworten. Dieser Ansturm der Vergangenheit kann einem Angst machen. Wenn ich mir nur vorstelle, dass all die unveröffentlichten Weltbestseller irgendwo draußen frei herumlaufen. Dazu kommen dann noch die Geschichten der anderen, die ihre Vergangenheit gerade erst als Gegenwart erleben – sie hätten sie rein theoretisch auch mir schicken können. Was mache ich dann mit dem ganzen Kram?
    Andererseits kann ich die Absender gut verstehen. Die Vergangenheit ist eine Last. Sie drückt auf die Schultern. Besonders merkt man das in unserer Ostberliner Gegend, wo die meisten noch ihre sozialistische Vergangenheit mit sich herumschleppen. Sie alle haben irgendwelche Leichen im Keller. Jedes Mal wenn ich einen sympathischen älteren Mann kennenlerne, einen Journalisten oder Schriftsteller, der mir klug und kumpelhaft erscheint, sagt mein allwissender westdeutscher Kollege: »Du weißt, Wladimir, der war bei der Stasi.« Die Taxifahrer, die ich beim Spreefunk anrufe, entpuppen sich nicht selten als ehemalige hochrangige Offiziere der Nationalen Volksarmee. Als ich einen neulich auf die Fernsehdokumentation über die Besetzung der Stasi-Zentrale von vor fünfzehn Jahren ansprach, rastete er beinahe aus. Er lenkte den Wagen nur noch mit dem Knie, drehte sich zu mir um und rief: »Ich als ehemaliger Oberleutnant der NVA kann Ihnen versichern, das war alles von der CIA inszeniert! Glauben Sie etwa, die Amis wollten uns die Freiheit bringen? Sie wollten nur die Skizzen von Landungsgeräten für die sowjetischen MIG 27! Aber ich habe dafür gesorgt, dass sie diese Skizzen niemals bekommen haben! Lesen Sie das, dann werden Sie alles verstehen!« Der Fahrer zeigte mir ein Taschenbuch mit dem Titel Weltverschwörung CIA. Ob er die Skizzen noch immer hat?, überlegte ich, genierte mich jedoch zu fragen.
    Die nette Baguetteverkäuferin von nebenan war früher Leutnant bei den Grenztruppen, und unser Briefträger arbeitete als Mordkommissar bei der Volkspolizei – deswegen klingelt er immer zweimal.
    TIPP:
    Berlin hat die meisten Friedhöfe Deutschlands, sie sind hier auch Interessengemeinschaften: Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an der Chausseestraße neben dem Brechtzentrum liegen die deutschen Dichter und Denker von Hegel bis Müller. Auf dem Invalidenfriedhof ruhen die berühmtesten preußischen Militärs, weswegen die DDR ihn halb abräumte und zu einem so genannten Todesstreifen machte. Die Westberliner Schickeria hat ihre letzte Heimstätte auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof gefunden und die namhaftesten Revolutionäre auf dem Sozialistenfriedhof in Friedrichsfelde. Auch die bei der Befreiung Berlins 1945 gefallenen sowjetischen Soldaten haben mehrere Ehrenfriedhöfe in der Stadt: einen in Treptow, einen im Tiergarten und einen in Pankow. Die toten 68er zieht es dagegen mehrheitlich auf die Friedhöfe am Südstern in Kreuzberg.

Shoppen in Berlin
    Berlin ist deutschlandweit auf Platz eins, was die Anzahl der Shoppingcenter betrifft. Allein in unserem Bezirk Prenzlauer Berg stehen mehrere solcher Häuser, und eines davon befindet sich fast direkt gegenüber unserer Wohnung: die berühmt-berüchtigten »Schönhauser Allee Arkaden«, die mir immer wieder Stoff für neue Geschichten liefern. Die drei Stockwerke dieses Kaufhauses sind stets mit Menschen überfüllt, die aber mehr schauen als kaufen.
    Die Idee, universelle Kaufhäuser von der Größe eines kleinen Dorfes zu bauen, damit jeder all seine Bedürfnisse auf einmal stillen kann, kam aus Amerika. Ich habe solche Kaufhäuser zuerst in den alten amerikanischen Zombie-Filmen gesehen, noch bevor ich nach Berlin auswanderte. Die Einheimischen verbarrikadierten sich in diesen Filmen am liebsten in einem solchen Kaufhaus, wenn sie sich von den Zombies verfolgt fühlten oder wenn Vampire ihre Stadt belagerten oder wenn ein Weltkrieg ausbrach. Nur dort konnten sie auf Dauer überleben, genug Essen, Waffen und Medikamente finden und die Angreifer erfolgreich bekämpfen. Diese Filme waren wie ein blutiger Konsumrausch. Die Helden plünderten alle hundert Geschäfte nacheinander, sie brummten mit Harley Davidsons durch die Hallen, mit einer teuren Whiskeyflasche in der einen und einem noch teureren Gewehr in der anderen Hand, und schossen auf die armen, wehrlosen Zombies, die nur etwas zum Beißen suchten. Die Frauen bewarfen währenddessen die Zombies vom Dach aus mit Ketchupflaschen und schweren Konservenbüchsen.
    In Berlin ist das amerikanische Konzept der von Zombies
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