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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner
Autoren: Kaminer Wladimir
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wegen der Kohlehydrate, die angeblich pures Gift seien.
    Also stieg ich aufs Fahrrad und fuhr selbst – zu einer nahe gelegenen Bäckerei. Es war Abend, das meiste ausverkauft, die Verkäuferin saß mit einer Tasse Kaffee vor sich in einer Ecke und schaute etwas verträumt an die Decke. Am Regal hing ein Zettel:
    »Sonntagsbrötchen im Sonderangebot: 5 Stück – 1 Euro«. Ich schaute auf die Uhr. Es war Dienstag. Scheiße, dachte ich, aber was soll’s, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Für alle Fälle fragte ich die Verkäuferin jedoch, ob sie unter Umständen auch noch etwas Frischeres auf Lager habe. Montagsbrötchen zum Beispiel. Die Frau reagierte heftig. Wie eine Rakete schoss sie von ihrem Stuhl hoch und schrie: »Dat kann nich wahr sein, wollen Sie mich verarschen, oder wat?«
    Ich wunderte mich, dass meine harmlose Frage sie derart in Rage gebracht hatte. »Was ist daran falsch, wenn man am Dienstagabend keine Brötchen vom Sonntag haben will?«, fragte ich.
    Die Verkäuferin wurde grün im Gesicht. »Diese Brötchen sind ganz frisch, sie heißen nur Sonntagsbrötchen, so wie sie Iwan heißen«, blaffte sie mich an.
    »Na, hallo«, sagte ich. »Das kann doch keiner wissen, dass Ihre Brötchen solche bescheuerten Namen tragen. In meinem Land tragen Brötchen keine Namen. Und Ihren rassistischen Iwan-Vergleich weise ich entschieden zurück. Ich trage doch kein Schild um den Hals ›Fünf Iwans zum Sonderpreis‹ oder so. Unter solchen Umständen habe ich keine Lust mehr, bei Ihnen einzukaufen, und Ihre verrosteten Sonntagsbrötchen können Sie sich sonst wohin stecken!«
    Eine ganze Woche schon lebe ich nun ohne Kohlehydrate und fühle mich eigentlich ganz wohl dabei.
    TIPP:
    Deutlich freundlicher als die Bäcker sind die Berliner Frisöre, besonders die türkischen. Sie wissen nicht nur immer die neusten türkischen Nachrichten zu erzählen, sie beherrschen auch noch die in Europa längst vergessene Kunst des Bartschneidens. Außerdem können sie Ihnen Ihren Schnurrbart einrichten und Augenbrauen auseinanderkämmen. Dazu gibt es einen Kaffee und – falls gewünscht – auch eine Rasur.

Warum der Postmann in Berlin immer zweimal klingelt
    Was die Berliner von anderen Deutschen unterscheidet, ist ihre Vergangenheit. Sie alle hatten zwei Leben, sie alle waren schon einmal etwas ganz anderes. Als Schriftsteller werde ich oft mit der Vergangenheit mir völlig unbekannter Menschen konfrontiert. Wegen deren Vergangenheit ist mir schon mehrmals die Tür vom Briefkasten gesprungen. Er platzt aus allen Nähten von Lebensgeschichten, die nach der Meinung ihrer Absender alle Bestsellerqualität haben. Aber Geld und Ruhm interessieren die Absender gar nicht, sie wollen bloß ihre Vergangenheit loswerden.
    »Hier ist nur eine kurze Aufstellung der Fakten. Wenn Sie mehr wissen wollen, müssen Sie mich besuchen, ich wohne gleich um die Ecke«, schreiben sie und schicken mir ihre Memoiren, Bilder aus Familienarchiven, Ausschnitte aus alten Zeitungen, ihre Geburts- und Heiratsurkunden in mehrfacher Ausfertigung, Ausreiseanträge und Briefwechsel mit der Verwandtschaft. Später mahnen sie: »Sollten Sie sich für mein Leben doch nicht interessieren, schicken Sie mir umgehend alle meine Dokumente zurück. Ich werde Sie dann nicht mehr belästigen.«
    Schön wäre es. Wir ziehen oft um. Beim letzten Umzug sind viele dieser zugeschickten Schicksale verloren gegangen, ein ganzer Pappkarton voll. Aus Westberlin schreiben mir die Leute gerne über ihre Eltern, die Nazis waren oder im Untergrund kämpften: Es gibt viele Liebesgeschichten mit politischem Hintergrund. Russische Soldaten vergewaltigen die Oma. Amerikanische Soldaten heiraten KZ-Häftlinge. Oder sie schreiben, wie sie Tunnel gruben, um ihre Brüder und Schwestern aus den Fängen der sozialistischen Diktatur zu befreien. Glaubt man diesen Lebensgeschichten, lebten im Westen vor allem Helden, im Osten dagegen die Opfer.
    Aus Ostberlin bekomme ich den blanken Wahnsinn: »Ich war ein Kämpfer für ein unabhängiges Deutschland ohne Folter. Die Schweine haben mich wegen meiner politischen Überzeugungen fünf Jahre in die DDR-Psychiatrie eingesperrt. Nach der Wiedervereinigung hat mich die BRD-Psychiatrie für weitere fünf Jahre übernommen. Ich habe sechs Attentate auf meine Person überlebt, vom KGB, BND und dem Roten Kreuz. Anbei mein Entlassungsschein auf Englisch und Deutsch. Das Wichtigste habe ich rot markiert.«
    Ich drücke mich davor, diese Briefe zu
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