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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner
Autoren: Kaminer Wladimir
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sie bei ihm ein.
    »Warum fährst du immer nach Charlottenburg zum Frisör?«, regte er sich auf. »Das ist doch pure Zeit- und Geldverschwendung!«
    Er selbst ging seit zwanzig Jahren zu seinem Ostfrisör, dem besten auf dieser Seite – ein Udo Walz des Ostens, zuverlässig und preiswert. Früher soll er sogar Honecker und dem gesamten Politbüro die Haare geschnitten haben, erzählte unser Bekannter. Trotz dieser Antiwerbung ging seine Freundin hin.
    Der Udo Walz des Ostens hatte einen eindrucksvollen Auftritt: »Sagen Sie nichts! Ich bitte Sie, schweigen Sie!«, wuselte er mit den Händen. »Als ick Ihren Kopf sah, hatte ick sofort ne Fision.« Er ging rasch an die Arbeit. Die Folge seiner Vision war, dass die arme Frau einen Nervenzusammenbruch erlitt, einen Monat lang nur mit einer merkwürdigen Perücke das Haus verließ und noch antikommunistischer wurde, als sie es vorher war.
    Daneben habe ich bemerkt, dass die gerissensten ostdeutschen Geschäftsmänner immer ostdeutsche Steuerberater haben. Ich habe mit den Steuerberatern auf beiden Seiten des Berges bereits Erfahrungen gemacht und weiß daher, wie unterschiedlich sie sind. Die westlichen haben in der Regel einen großen Empfangsraum und mehrere Sekretärinnen, die alles notieren, was der Chef sagt, selbst wenn er nur hustet oder von seinem Urlaub auf Hawaii erzählt. Der westliche Steuerberater macht immer den Eindruck, als hätte er selbst mehr Kohle als all seine Kunden zusammen. Das verunsichert den ostdeutschen Geschäftsmann und sorgt für Minderwertigkeitskomplexe. Außerdem versteht er oft nicht, was der Berater ihm rät. Der östliche Steuerberater sieht aus wie ein ehemaliger Unteroffizier der NVA, läuft in einer Lederjacke durch die Gegend, kann tätowiert beziehungsweise leicht gepierct sein und empfangt seine Klienten gern in einer Kneipe. Dabei kommt er gleich zur Sache.
    »Dat würde icke an deiner Stelle anders machen, denn wenn die kommen, schauen sie sich dit und dat an.«
    Und jedem ostdeutschen Geschäftsmann ist sofort klar, was damit gemeint ist.
    Genauso verhält es sich hier auch mit den Kinderärzten, Lebensmittelverkäufern, Saunamitarbeitern und Diskothekenbesitzern. Und wenn man zu einem Taxifahrer aus dem Westen sagt »Fahren Sie mich bitte ins Zentrum«, landet man fast immer irgendwo am Ende der Welt – in Charlottenburg.
    Erst in den letzten Jahren ist der Prozess der Annäherung langsam in Gang gekommen – durch den Ausbau der berlintypischen landschaftlichen Attraktivitäten und die damit verbundene Migration der Arbeitskräfte aus dem Westen. Diese Arbeitskräfte machen sich sofort die regionalen Sitten und Gebräuche zu eigen und sind schon nach kurzer Zeit als Wessis nicht mehr erkennbar. So erfuhr ich, als ich mit diesem Kapitel fast fertig war, dass mein tätowierter Steuerberater, der so perfekt berlinern konnte, in Wirklichkeit aus Heidelberg kam. Ein Schock.
    TIPP:
    Na gut, mit den Parolen habe ich es etwas künstlerisch überspitzt. Die wahre DDR-Parole von damals lautete: »Freie Fahrt nach Gießen«. Aus heutiger Sicht hört sich das allzu lächerlich an, denn wer will schon freiwillig nach Gießen? Weil es in Berlin alles doppelt gibt, hat die Stadt auch zwei Teufelsberge und zwei Teufelsseen – einen im Grunewald und einen südlich des Müggelsees. Ebenso gibt es auch zwei Berge mit Künstlern obendrauf: den Kreuzberg im Westen und den Prenzlauer Berg im Osten. Hier wurde einst unter Stasi-Aufsicht eine Wilde Poesie kultiviert, dort wurden unter Marktzwängen die Jungen Wilden kreiert. Man merkt es zwar kaum, dass es hochgeht, wenn man den Prenzlauer Berg erklimmt, aber den Kreuzberg erkennt man schon von weitem an seinem künstlichen Wasserfall und dem neogotischen Schinkeldenkmal für die so genannten Freiheitskriege.

Berliner Großereignisse
    Die Berliner gehen gerne aus, mindestens zweimal im Jahr. Zwar werden täglich in der Hauptstadt jede Menge unbedeutende Ereignisse als große Events in der Presse angepriesen, doch von den wahren Großstadt-Partys, die dem Berliner ans Herz gewachsen sind, gibt es nur zwei: Berlinale und Grüne Woche. Beide finden mitten im Winter statt, wenn die Nächte lang und die Tage kurz sind und die Kälte den Menschen schwer zu schaffen macht. Man kann nicht mehr draußen auf der Parkbank sitzen, in der Stammkneipe fällt permanent die Heizung aus, in der Bierkiste auf dem Balkon platzen jede Nacht die Flaschen. Kein Wunder, dass viele um diese Jahreszeit depressiv
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