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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner
Autoren: Kaminer Wladimir
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dass es in diesem Krieg keine eindeutigen Gewinner geben konnte, teilten sie sich die Beute. Die Bärenmenschen zogen nach Spandau an die Havel, die Affenmenschen gingen nach Köpenick an die Spree.
    Mit der Zeit kamen sie einander etwas näher, manche heirateten sogar gegen den Willen ihrer Eltern ins fremde Lager ein. Nach einer solchen Heirat durften sie sich aber weder in Köpenick noch in Spandau wieder blicken lassen, und so siedelten sie sich irgendwo dazwischen an. Dort, in den Sümpfen des Neolithikums, kamen die ersten Berliner zur
Welt – Zwitter aus Affen und Bären. Diese Spezies erwies sich zwar als etwas muffelig, war aber durchaus überlebensfähig. In ihrer Mentalität verbanden die Urberliner die besten Eigenschaften ihrer Vorväter: die Grazie eines Bären mit der Schläue eines Affen. Sie ließen sich nicht von den anderen Frischeuropäern dumm von der Seite anquatschen und schliefen den ganzen Winter über.
    Während die anderen Ureinwohner Europas sich anschickten, ihre Städte möglichst schnell auf Weltniveau zu bringen, konnten die Berliner der Streberei des Mittelalters nichts abgewinnen. Sie hielten sich demonstrativ aus allem heraus, wurden christianisiert, ohne es überhaupt mitzubekommen, und zu Zeiten der Reformation, als Martin Luther seine fünfundneunzig Thesen an die Wittenberger Kirchentür nagelte, konnten sich die Berliner als Einzige nicht entscheiden, ob sie nun Kalvinisten oder Katholiken sein wollten. Sie wollten nur in Ruhe gelassen werden. Während des Dreißigjährigen Krieges wechselten die Berliner jedes Jahr die Seiten und schickten ihre Truppen mal in die eine, mal in die andere Richtung. In der Regel immer dorthin, wo gerade am wenigsten los war. Sie akzeptierten weder Peitsche noch Zuckerbrot. Egal, was man ihnen anbot, sie waren immer dagegen.
    Doch die Zeiten waren hart. Der Widerwille und Eigensinn der Berliner konnten die Stadt nicht auf Dauer vor Monarchen, Kaisern und Führern retten. Unzählige Male war Berlin deswegen im Laufe der Geschichte dem Untergang geweiht. Doch nach jedem Brand, nach jeder Zerstörung bauten die Berliner ihre Stadt wieder auf, und zwar immer genauso wie früher. Man nannte das Sanierung. Mit der Zeit entwickelte sich daraus ein regelrechter Wiederaufbau-Tick, den sie bis heute nicht überwunden haben. Die Bauarbeiten dauern das ganze Jahr an und gehören längst zu den festen Sehenswürdigkeiten der Stadt: »Jede Baustelle eine Schaustelle« – so nennt man das hier. Auch fünfzig Jahre nach dem letzten Krieg werden in Berlin täglich Häuser planiert und wieder aufgebaut.
    Der Name der Stadt wird laut Berichten der westeuropäischen Historikerkommission vom Markgrafen Albrecht abgeleitet, dem Anführer der Bärenmenschen, der angeblich den Spitznamen »Bär« trug. Diese Version wird jedoch von der osteuropäischen Historikerkommission nicht bestätigt. Sie behauptet, der Name »Berlin« käme aus dem Slawischen und bedeute so viel wie »Gut gemistete Gegend«.
    Nach dem letzten Weltkrieg wurde Berlin von den Siegermächten wieder in seine ursprüngliche Zwei-Stadt-Form gebracht, wobei sich das ehemals dem Affenstamm zugehörige und fortan sozialistisch geführte Ostberlin von seinen Bärenbrüdern im Westen mittels einer Mauer trennte. Sie bekam den protzigen Namen »Berliner Mauer« und hielt beinahe vierzig Jahre. Noch heute ist dieses Bauwerk mit Abstand die spannendste Attraktion der neuesten deutschen Geschichte, die das Land den Touristen zu bieten hat. Wenn Sie Berlin besuchen und auf der Suche nach der Berliner Mauer durch die Stadt flanieren, sollten Sie auf gar keinen Fall einen Einheimischen nach dem Weg zu fragen. Der wird Sie bestimmt verarschen und auf irgendeine Parkanlage zeigen. Ich erlaube mir hier, ein großes Geheimnis dieser Stadt zu lüften: Die Mauer gibt es seit siebzehn Jahren nicht mehr. Sie ist wie die Bastille in Paris längst abgerissen worden. Ein richtiger Berliner Reiseführer wird Sie bestimmt zum Check Point Charlie schicken, dem ehemaligen innerstädtischen Grenzübergang. Dort kann man angeblich noch die Überreste der Mauer sehen. Diese Überreste werden dort, in kleinen Tütchen verpackt, von türkischen Balalaikaverkäufern zu erschwinglichen Preisen an amerikanische und japanische Touristen verscherbelt. Die Tütchen werden in China hergestellt, die Steine sind auch nicht echt. Wahrscheinlich kommen sie aus Polen. Aber das interessiert keinen.
    TIPP:
    In Berlin gibt es mehrere Bärenzwinger.
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