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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner
Autoren: Kaminer Wladimir
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mit der DDR-Speisekarte, die als heilige Reliquie über dem Tresen hängt. Dann bestellten sie eine Cola für zwei und warteten auf den Frauenüberschuss. Sie wollten, dass jemand sie kennenlernte. Wir lachten natürlich darüber. Nachts kann man im Burger nur jemanden unter dem Tisch kennenlernen, wenn man an der richtigen Stelle umfällt. Und selbst dann wird man wegen der mangelnden Beleuchtung und der sehr lauten Musik nie erfahren, wie die Person heißt und wie sie in Wirklichkeit aussieht. Man will doch eigentlich seine neuen Freunde im Tageslicht erleben. Aber tagsüber ist das Burger geschlossen. Mehr darf ich nicht über diesen Laden schreiben, also zurück zu Berlin.
    Es fällt mir schwer, über diese Stadt etwas Neues zu sagen, ich wohne einfach schon zu lange hier.
    »Berlin ist eine geheimnisvolle Stadt«, schrieb ich vor sieben Jahren in meinem ersten Buch. »Nichts ist hier so, wie es scheint.« Damals recherchierte ich verschiedene Geschäftstarnungen von Berliner Restaurants. Jedes Mal wenn ich essen ging, stellte sich heraus, dass der Italiener in Wirklichkeit ein Grieche war, die Japaner in einer authentischen Sushi-Bar entpuppten sich als Russen, und die Türken, die einen Grillhähnchen-Imbiss betrieben, sprachen Bulgarisch.
    Viel Zeit ist seitdem vergangen. Zu Lesungen und mit der Russendisko habe ich einige hundert deutsche Städte besucht. Oft fragten mich die Leute dort, ob ich mir vorstellen könne, aus Berlin wegzuziehen.
    »Nein, kommt nicht infrage«, schüttle ich den Kopf. Berlin bleibt mein Lieblingswohnort. Dabei möchte ich keinen Schatten auf die anderen Großstädte Deutschlands werfen: Natürlich haben auch sie unbestreitbar ihre Vorteile: München zum Beispiel liegt sehr nahe an Italien. Die Münchner sehen viel gesünder als die Berliner aus, sie sind besser angezogen, die Autos sind nicht zerkratzt, und es gibt dort Bier in zweilitergroßen Gläsern.
    Köln ist auch einmalig. Dort wird die Zeit in Karnevalssessionen gemessen. Kaum ist die eine vorbei, schon steht die nächste vor der Tür. Die Bewohner teilen sich in Dutzende von Karnevalsgesellschaften, sie singen und tanzen das ganze Jahr über auf der Straße und ziehen sich auch permanent närrisch an und um. Manche laufen sogar fast nackt durch die Gegend. Gleichzeitig ersetzt der Karneval das wirtschaftliche und politische Leben in der Stadt: Es gibt närrische Stadt- und Regionalverbände mit Präsidenten, ersten, zweiten und dritten Vorsitzenden. Es werden regelmäßig Karnevalsmessen durchgeführt und eine Unmenge karnevalistische Zeitungen und Zeitschriften herausgegeben. Die Karnevalsveteranen werden mit Verdienstorden aus Bronze und mit Geldprämien ausgezeichnet, und ihr Ableben wird öffentlich bedauert.
    Aber Berlin ist auch nicht so weit weg von Italien und an manchen Stellen näher an China und Brasilien. Es gibt hier ebenfalls einen Kölner Karneval und ein Oktoberfest, eine Love- und eine Fuck-Parade und dazu jeden Tag mindestens drei Demos irgendwo in der Stadt, auch wenn ich selbst noch nie auf einer war. Täglich gibt es in Berlin laut Programm circa vierzig Theateraufführungen, unzählige Rockkonzerte, und immer gastieren ein paar Zirkusse irgendwo in der Stadt, auch wenn ich nicht weiß, wo. Es gibt auch keinen Zwang, dort hinzugehen – das macht die Stadt für mich so attraktiv.
    Der muffige Berliner, für den es immer etwas zu meckern gab, ist zum großen Teil in den Westen abgehauen, wahrscheinlich auf der Suche nach einem gut bezahlten Arbeitsplatz. Alle, die einen Vogel haben, kamen dagegen nach Berlin. Aus ganz Deutschland kommen die Knaller hierher, um endlich so zu leben, wie sie es gern hätten, ohne dass jemand mit dem Finger auf sie zeigt. Dabei finden sie in Berlin ganz schnell Gleichgesinnte, eine Stammkneipe, einen eingetragenen Verein und eine spezielle Knaller-Zeitung noch dazu. Nur gehen sie dabei unter, weil sich kein Mensch mehr über sie aufregt. Die Studenten, die im Winter nackt auf die Straße gingen, um gegen Studiengebühren zu demonstrieren, laufen auch heute noch manchmal nackt durch die Gegend, aber niemand regt sich darüber auf.
    Das Überangebot an Freizeitbeschäftigungen ist hier nicht aufdringlich. Man muss kein echter Berliner sein, um sich hier zu Hause zu fühlen. Die Stadt lebt von ihrer Vielseitigkeit, es gibt etwas für jeden, aber nicht jeder muss unbedingt alles mitmachen.
    Das beste Beispiel dafür ist die Berliner Gastronomie. Hier können die Münchner in
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