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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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flüstern.
    Horace Brons schwere Hände umklammern meine Handgelenke fester als jede Kette es könnte. Er sieht aus, als wäre er heute lieber nicht der Gerichtsdiener.
    Er führt mich den Mittelgang entlang. Schuljungen rufen mir Beleidigungen zu, ihre Eltern lassen sie gewähren. Mutter schaut weg, als ich vorbeigehe. Mr Robinson sieht mich hasserfüllt an. Abijah Pratts bösen Blick werde ich wohl nie wieder los. Ein letztes Mal drehe ich mich nach dir um, aber die Menge verstellt mir den Blick.
    II
    Horaces Hand drückt schwer gegen meinen Hinterkopf, als er mich in den Pranger einspannt. Das untere Brett hat zwei Vertiefungen für meine Hände und eine für meinen Kopf. Horace lässt das obere Brett einrasten. Meine Füße stehen auf der Plattform, aber mein Rücken ist gebeugt
    Immerhin ist es für einen Novembertag recht warm und die Sonne steht hoch am Himmel.
    Wenn ich den Kopf hebe, sehe ich die Wiese, die Kirche, die Schule, die Straßen und Häuser. Rund um das Dorf wächst hoher Immergrün. Die restlichen Bäume sind kahl, ihr Laub liegt am Boden. Auf dem Dorfplatz stehen ungefähr zweihundert Bewohner beisammen, auch Kinder sind dabei. Sie reden.
    Über mich.
    Ich senke den Kopf und sehe nur noch die grauen Planken der Plattform. Das Holz unter meinem Kehlkopf beeinträchtigt mich beim Atmen. Wenn ich den Kopf hebe, schmerzt mein Rücken.
    Jetzt holt Horace Bron auch dich aus der Kirche. Er führt dich wie einen jungen Hengst an der Leine. Sieh mich an, Lucas, aber sieh mich als etwas anderes als das, was du vor Augen hast.
    Und du siehst mich an. Bis sie auch deine Hände und deinen Kopf in einen Pranger zwingen, siehst du mich an, aber ich kann deinen Blick nicht deuten. Das obere Brett schließt sich über dir. Jetzt steht der dicke Pfahl zwischen uns, der den Doppelpranger hält. Wir sind nur Zentimeter voneinander entfernt, aber wir können uns nicht sehen. Nur die anderen sehen uns. Wir hängen hier wie Jagdtrophäen.
    Ich bin erst seit einer Viertelstunde gefangen und habe schon wunde Handgelenke.
    Dougal Wills schlaksiger kleiner Bruder Caleb wird langsam mutig. Er wirft eine Handvoll Schlamm in meine Richtung. Er landet neben mir, aber mein Gesicht bekommt die Spritzer ab. Caleb wartet ab, ob jemand ihn ermahnt, und formt dann fröhlich eine weitere Kugel aus Dreck. Diesmal zielt er besser.
    Ich kann meine Augen erst nach einer Weile wieder öffnen.
    Lachend rennen die Jungen davon.
    Als sie wiederkommen, haben sie Kompost mitgebracht. Verrottete Kohlköpfe und Paprika, die ich rieche, noch bevor sie in meine Richtung fliegen. Faulige Äpfel und Kartoffeln, die noch hart genug sind, um beim Aufprall zu schmerzen. Auch du wirst nicht verschont.
    Sie bewerfen uns unter den Augen ihrer Eltern.
    Irgendwann brüllt Horace Bron: »Es reicht!« Die Kinder verstecken sich hinter den Rockschößen ihrer Mütter. Den Dorfbewohnern fällt plötzlich ein, dass sie heute noch viel zu erledigen haben. So schnell wie die Sache losging, endet sie nun. Alle ziehen sich zurück, um sich aus sicherer Distanz an unserem Anblick zu weiden.
    III
    Horace Bron kehrt in seine Schmiede zurück. Sie liegt direkt am Dorfplatz. Er kann arbeiten und uns gleichzeitig im Auge behalten.
    Noch über zwei Stunden und wenn die vorbei sind, ist keine Rettung in Aussicht.
    Wie sich wohl das französische Mädchen gefühlt hat, als ihre Landsleute den Scheiterhaufen entzündeten? Vielleicht war sie erleichtert, dass es bald vorbei sein würde?
    Die Kälte brennt mir in den Augen, genau wie die Abfälle, die nach mir geworfen wurden.
    Mein Rücken schmerzt.
    Aber nicht so sehr wie andere Dinge.
    IV
    Wir stehen. Unsere Körper geben nach. Wir richten uns wieder auf.
    Wir bewegen unsere Hälse, damit die Sehnen und nicht unsere Luftröhren die Hauptlast unserer Köpfe tragen.
    Ich kann dich nicht sehen, aber ich spüre deine Bewegungen, weil die beiden Pranger über den Mittelpfahl miteinander verbunden sind.
    Wir reden nicht miteinander. Was gibt es auch zu sagen?
    V
    »Ich friere nachts«, sagte er eines Morgens zu mir. »Wenn du nicht mit mir das Bett teilen willst, dann nimm diese Stofffetzen hier und deine alten Sachen und nähe mir eine Decke. Immerhin habe ich dir meine gegeben.«
    Ich nähte ihm eine Decke.
    Er kritisierte das Ergebnis. Mutter hätte das Gleiche getan. Oh, wie sehr ich ihre Kritik genossen hätte.
    VI
    In der zweiten Nacht hätte er mich nicht einsperren müssen. Ich war noch zu verängstigt von allem, was ich
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