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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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überlege kurz, ob ich weglaufen soll. Aber ich bin zu schwach, hungrig und müde. Ich käme nicht weit.
    Ich stehe auf. Irgendwie tragen mich meine Füße an all den starrenden Menschen vorbei in den vorderen Teil der Kirche. Jetzt stehe ich direkt hinter dir. Du bräuchtest dringend ein Bad. Genau wie ich.
    Vergiss nicht, ermahne ich mich selbst. Schweigen ist Macht. Ich falte die Hände und senke den Blick.
    »Miss Finch«, fragt der Dorfvorsteher, »hat Ezra Whiting Sie entführt und Ihre Zunge herausgeschnitten?«
    Ich halte den Blick gesenkt.
    »Sie kann nicht sprechen.« Goody Pruett erschreckt alle. Ich drehe mich nach ihr um. Sie ist so klein, dass sie die Sitzenden auch im Stehen kaum überragt. Es ist Frauen verboten, unaufgefordert bei Versammlungen das Wort zu ergreifen, aber Goody Pruett ist alt genug, um die Regeln zu ignorieren.
    »Das kann sie wohl!«, ruft Abijah Pratt. »Ich habe sie erst neulich nachts gehört! Sie erschreckte sich und rief: ›Wer ist da?‹ Sie hat eine Stumme gespielt, die sie gar nicht ist. Sie sagt nichts, weil sie weiß, dass sie schuldig ist!«
    Abijah Pratt war auf unserem Hof? Was hatte er dort zu suchen? Ich erinnere mich, was er an Marias Hochzeitstag gesagt hat. Ehebruch, Geständnis, Strafe …
    Ich habe dich zweimal verschont.
    Das braune Kleid, das man gefunden hat.
    Ich sehe Abijah Pratt an. Er dreht sich weg. In der Nähe sitzt der kleine, stämmige Mr Robinson. Innerlich entschuldige ich mich dafür, ihn verdächtigt zu haben.
    Ich sehe hoch zu den Dorfältesten. Einer von ihnen fragt: »Wessen ist sie schuldig, Pratt? Miss Finch ist nicht angeklagt.«
    Abijah kaut auf der Unterlippe. Er dreht sich um und zeigt auf meine Mutter. »Fragt sie! Mrs Finch! Haben Sie damals, als Ihre Tochter in der Nacht verschwand, nicht ausgesagt, dass es in Ihrem Haus keine Anzeichen von Einbruch und Entführung gab? Dass sie das Haus freiwillig verlassen haben muss?«
    Ich drehe mich um. Meine Mutter reagiert nicht auf die Frage. Ihr Gesicht ist aus Stein.
    »Das hat sie damals gesagt«, wiederholt Abijah. »Das heißt, die kleine Finch ist aus freiem Willen mit Ezra gegangen.«
    Es ist wie ein Schlag in den Magen.
    » Meine Lottie war tugendhaft. Sie war nicht hinter den Männern her.«
    Das ist beinahe komisch. Die tugendhafte Lottie und die männermordende Judith.
    Ein Räuspern. »Verzeihung.« Die Stimme kenne ich nur allzu gut. »Dürfte ich? Ich habe Informationen, die sich als wichtig erweisen könnten.«
    Ich drehe mich nicht um. Ich will Rupert Gillis nicht sehen, was immer er zu sagen hat.
    »Ich fürchte, Lucas Whiting wird fälschlicherweise angeklagt.« Er spricht mit absoluter Präzision.
    Ich schöpfe Hoffnung. Dass ich mich je über Rupert Gillis’ Aussagen freuen könnte!
    »Am Tag des Kampfs gegen die Homelander sah ich, wie Judith Finch zu Lucas Whiting ging und ihn bat, sie zu begleiten. Er folgte ihr sichtlich unwillig. Sie führte ihn zu Ezra Whiting.«
    Seine Stimme ist sanft, wie Gesang. Die Worte strömen aus seinem Mund wie Wasser.
    »Natürlich kannte ich Mr Whiting Senior nicht persönlich, aber sie brachte Lucas zu dem Mann, der die Schiffe der Homelander in Flammen aufgehen ließ.«
    »Seht ihr?« Abijah Pratt hüpft von einem Fuß auf den anderen. »Sie steckt mit dem jungen Whiting unter einer Decke!«
    Rupert Gillis hüstelt. »Ich bitte um Entschuldigung, aber Lucas Whiting schien gänzlich erstaunt zu sein, seinen Vater zu sehen. Als handele es sich um einen Geist! Das schwöre ich!«
    »Also ist Lucas Whiting unschuldig«, sagt jemand. Ich weiß nicht, wer. Andere murmeln erleichtert.
    Siehst du, mein Liebling? Du hast hier noch Freunde, die zu dir halten.
    Du wirfst mir einen besorgten Blick zu.
    Rupert genießt die Situation sichtlich. »Deshalb glaube ich, das Lucas Whiting nicht wusste, dass sein Vater noch am Leben war. Es gibt aber Hinweise darauf, dass Lucas Whiting und Judith Finch in gewisser Weise unter einer Decke stecken.«
    Seine präzisen, undurchdringlichen Worte bereiten mir eine Gänsehaut.
    Als Überbringer schlechter Nachrichten spricht Rupert nun leise. »Vor einigen Wochen sah ich die beiden zusammen im Wald. Sie lagen einander in den Armen.«
    Mrs Robinson hält ihrer jüngeren Tochter die Ohren zu.
    Du kämpfst mit deinen Fesseln. »Das ist eine Lüge!«
    Ich würde am liebsten würgen.
    Alle im Raum flüstern durcheinander.
    Er hat uns schon wieder beobachtet? Ich wusste, dass der Lehrer mich nachts aus deinem Haus
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