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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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noch an die Waldarbeiten für Clyde Aldrus? Ich werde sie nie vergessen, aber für dich war das wahrscheinlich ein Tag wie jeder andere.
    Es war ein heißer Spätsommertag vor vier Jahren. Ich war gerade vierzehn Jahre alt geworden. Erst neulich war ein junges Paar aus Newkirk, im Norden, in Roswell Station angekommen. Die beiden wollten sich östlich der Stadt ansiedeln, kurz bevor der Wald endet und das Marschland beginnt. Clyde Aldrus hatte ein Grundstück abgesteckt und alle Bewohner der Stadt gebeten, beim Abtransport der dort gefällten Bäume zu helfen. Seine junge Frau Joan stand kurz vor der Geburt des ersten Kindes.
    Bestimmt erinnerst du dich, wie viel an jenem Tag gearbeitet wurde. Statt dich um deine Weizenfelder zu kümmern, hast du den ganzen Tag in der Hitze geschuftet, mit Hacke und Axt, Seite an Seite mit den Männern und älteren Jungs, und den Ochsen mit ihren schweren Ketten.
    Aber erinnerst du dich auch an das Essen? Und daran, was du zu dem Mädchen gesagt hast, das dir den Maispudding gebracht hat?
    Ich hoffe, du erinnerst dich nicht an meinen Maispudding. Den solltest du lieber vergessen. Ich hatte mich dafür entschieden, weil du einmal nach der Kirche gesagt hattest, es sei eines deiner Lieblingsgerichte.
    Meine ganze Familie war da: Mutter, Vater, Darrel und ich. Vater pfiff den ganzen Weg lang Lieder. Er hatte Old Ben vor den alten Karren gespannt, auf dem wir sonst die Äpfel transportierten. Mutter saß neben ihm, schüttelte den Kopf und lachte ihn aus. Ich umklammerte die Schüssel mit dem Maispudding in meinem Schoß.
    Als wir angekommen waren, setzte Mutter sich zu den anderen Frauen und nähte Kleidchen und Mützchen für das Baby, das bald zur Welt kommen sollte. Wir Mädchen kümmerten uns um das Essen. Wir waren alle nervös, weil wir den Bewohnern von Roswell Station zum ersten Mal unsere Kochkünste vorführten.
    Ich schnitt gerade zusammen mit Abigail Pawling Birnen, als mich jemand beiseite nahm.
    »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«, flüsterte Lottie Pratt mir ins Ohr.
    »Natürlich«, antwortete ich. »Was ist los?«
    Sie führte mich hinter einen Holzstapel, den die schwitzenden Männer aufgetürmt hatten. Maria Johnson und Eunice Robinson, die noch am Büffet standen und sich um das Essen kümmerten, beobachteten uns. Maria trug ein neues, blutrotes Kleid mit weißem, rundem Kragen. Ärmel und Mieder waren mit schwarzen Schleifen verziert. Vorhin – als Maria außer Hörweite war – hatte die kleine Elizabeth Frye gesagt, ihr Vater habe sie gewarnt, das Kleid zeuge beinahe schon von Eitelkeit. Als sei ihre Schönheit nicht genug, hatte Maria Johnson auch noch drei goldbraune Pflaumenkuchen mitgebracht, während uns anderen Mädchen schon die Puddings und Eintöpfe Schwierigkeiten bereitet hatten.
    Lottie, die seit dem Tod ihrer Mutter vor vielen Jahren für ihren Vater kochte, musste sich keine Sorgen machen, von Marias Kochkünsten übertrumpft zu werden. Ihre Hefebrötchen machten sogar Goody Pruetts Backwerk Konkurrenz. Sie hielt ihren Mund dicht an mein Ohr.
    »Ich habe einen Verehrer«, flüsterte sie.
    Ich sah sie an. Das musste ein Scherz sein! Doch sie hatte ganz rote Wangen und ihre Augen strahlten.
    »Wer ist es?«, fragte ich leise.
    »Pssst! Ich erzähle es dir später. Du kannst mich ja heute Abend beobachten und raten. Aber du musst schwören, es niemandem zu erzählen.«
    Mir schwirrte der Kopf. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie du eine Kette um einen Baumstamm legtest und Leon Cartwright, dem Ochsenführer, ein Zeichen gabst.
    »Was soll das heißen, du hast einen Verehrer?«
    Stolz baute Lottie sich vor mir auf. »Er sagt, er wird mich heiraten«, antwortete sie. »Er hat mich schon ganz oft geküsst.«
    »Geküsst!«, keuchte ich. Lottie legte mir den Finger auf die Lippen.
    In diesem Moment hast du dich umgedreht und gesehen, wie wir dort standen und flüsterten. Du hast gegrinst. Ich musste tief Luft holen.
    Lottie entging nichts. Sie zog die Augenbrauen hoch. Für einen schrecklichen Moment wurde mir klar, dass du ihr Verehrer sein könntest.
    »Ist es Lucas, Lottie?«
    Sie kicherte. »Und wenn?«
    Eunice und Maria sahen uns mit unverhohlener Missbilligung an. Mrs Johnson trat ans Büffet und Maria lenkte den Blick ihrer Mutter in unsere Richtung.
    »Ich muss es wissen«, flehte ich.
    »Warum? Ist Lucas etwa dein Verehrer?«
    Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. »Mach dich nicht über mich lustig, Lottie. Sag es mir
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