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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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Verstümmelung.
    William Salt. Erzählen Sie der Versammlung, was Sie in Whitings Hütte gefunden haben?«
    Der Müller liest eine Liste vor. »Acht Pulverfässer und zwölf Schachteln Schießpulver. Zweiundvierzig Waffen. Haushaltsgegenstände: Töpfe, Messer, Laken, Männer- und Frauenkleidung. Ein Kleid« – er hält ein zerknittertes, von Motten zerfressenes Stück braunen Wollstoff hoch –, »das der verstorbenen Charlotte Pratt gehörte.«
    Charlotte. Für mich war sie immer Lottie.
    Ich starre auf das Stück Stoff. Ich weiß noch, wie sie das Kleid trug. Ich war einst neidisch auf den großen, runden Kragen. Jetzt sieht es aus wie ein Geschirrtuch, die weiße Spitze ist vergilbt. Aber irgendetwas stimmt nicht. Dieser Kragen, dieses Kleid … Trügt mich die Erinnerung?
    »Abijah Pratt, schwören Sie, dass dieses Kleid Ihrer Tochter gehörte?«
    Endlich kann er seine ruhelosen Lippen zum Einsatz bringen. »Ich schwöre. Es gehörte ihrer Mutter. Sie hat es vor unserer Überfahrt – auf der sie dann starb – selbst genäht.«
    Einige ältere Frauen nicken. Eine solche Näharbeit vergessen sie nicht.
    Dorfvorsteher Brown fährt fort. »Dr. Brands, würden Sie der Versammlung beschreiben, in welchem Zustand Charlotte Pratts Leiche war, als man sie fand?«
    Melvin Brands erhebt sich. »Die Leiche des toten Kindes war mit Hämatomen übersät und durch das Wasser aufgequollen. Es war nicht festzustellen, ob sie ertrunken ist oder schon tot war, als sie in den Fluss geworfen wurde.«
    Hat Dr. Brands Lotties Leiche auf eine Art und Weise untersucht, die ihr Vater nicht gutgeheißen hätte?
    »Und ihre Kleidung?«
    Dr. Brands senkt die Stimme. »Sie trug keine Kleidung.«
    Ein Raunen geht durch die Reihen. Schande! Aber diese Zurschaustellung ihrer Empörung ist lächerlich. Denn alle wussten das bereits.
    Das Murmeln und Flüstern wird lauter. Dorfvorsteher Brown klopft mit einem Hammer auf den Tisch.
    »Wir haben zweifelsfrei festgestellt, dass Ezra Whiting der Entführer und Mörder von Charlotte Pratt ist.«
    Nein.
    Ich fühle mich seltsam gespalten, als betrachte ich alles von oben, während mein Körper dort unten sitzt.
    Ich begreife nicht, was hier geschieht. Weshalb zweifelsfrei? Wie nimmt ein Kleid den Zweifel fort? Meine Zweifel verstärkt es eher.
    Du versuchst, dich umzudrehen. Suchst du nach mir?
    Dorfvorsteher Brown ergreift das Wort. Es wird totenstill im Raum. »Lucas Whiting, Sie sind angeklagt, den Aufenthaltsort Ihres Vaters verschwiegen zu haben, ihn nicht angezeigt zu haben, als seine Verbrechen bekannt waren, und ihn bei Aktivitäten unterstützt zu haben, die unsere Sicherheit gefährdeten. Wie plädieren Sie?«
    Mit Mühe presst du die Worte hervor: »Nicht schuldig. Ich habe nicht gewusst, wo mein Vater war.«
    Abijah Pratt steht auf. »Wer weiß, ob er seinem Vater nicht sogar dabei geholfen hat, meine Lottie zu entführen! In der Blüte ihrer Jugend wurde sie mir genommen!« Er beginnt zu schluchzen. Nach all den Jahren ist sein Leid noch so frisch. Die Versammlung ist bewegt. Eine Frau zu seiner Linken reicht ihm ein Taschentuch.
    Du sollst etwas mit ihrem Verschwinden und ihrem Tod zu tun haben? Wer kann solchen Irrsinn glauben?
    Leon Cartwright steht mühsam auf. »Dorfvorsteher Brown, darf ich etwas sagen?«
    Leon wischt sich die Stirn ab. »Meine Herren, ich will an Lucas Whitings guten Charakter erinnern. Ich kann nicht glauben, dass er bei der Entführung dieser Mädchen geholfen hätte. In all den Jahren war er immer ein aufrechter Bürger und lebte brüderlich mit uns allen zusammen.«
    Du versuchst, dich nach Leon umzudrehen.
    »Er war ein fleißiger Bauer und ein großzügiger Nachbar. Er führte die siegreiche Schlacht an der Klamm an, die unser aller Leben gerettet hat.« Er nestelt am Revers seiner Jacke. »Wir waren fast noch Jungen, als die Mädchen verschwanden. Ich könnte so etwas nie von ihm denken.« Er blickt sich um und merkt, dass alle ihn ansehen. »Ich glaube, das war’s.« Er fällt schwer auf die Bank zurück. Maria nimmt seinen Arm.
    »Zum Sieg an der Schlucht kam es durch Ezra Whitings Hilfe«, sagt Reverend Frye. »Wer hat den Vater hierher geholt, wenn nicht sein Sohn?«
    Niemand sagt ein Wort.
    Er zeigt mit dem Finger auf dich. »Nun, Mr Whiting? Wer hat Ihren Vater geholt?«
    Du sagst nichts. Oh Liebling. Du sagst nichts.
    »Miss Judith Finch«, ruft er. »Kommen Sie nach vorne.«
    Alle drehen sich nach mir um. Alle außer dir. Und Mutter.
    Ich
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