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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst
Autoren: Stephan M. Rother
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er die Pforte zu seinem schlimmsten Albtraum aufgestoßen hatte.
    ***
    Es ist eine seltsame Sache mit den Kollegen.
    Du verbringst mehr Zeit mit ihnen als mit deiner eigenen Familie, glaubst sie mindestens so gut zu kennen wie deine Eltern und Geschwister, deine Kinder, deinen Ehepartner. Du hast dich mit den Macken jedes einzelnen abgefunden – oder auch nicht –, kriegst in den ersten paar Minuten nach Dienstbeginn mit, wenn jemand nicht gut drauf ist, und gehst automatisch ein bisschen auf Zehenspitzen.
    Als es damals mit Nils Lehmann und seiner Freundin auseinanderging, ist das ganze Revier wochenlang so rumgelaufen, und als der Vater von Irmtraud, unserer Sekretärin, einen Herzinfarkt hatte, haben wir alle eine verdammt schwere Zeit durchgemacht.
    Du glaubst diese Leute zu kennen. Gewissermaßen sind sie deine Familie. Denn das macht eine Familie ja aus: dass man sich nicht verstellen muss, sondern sich drauf verlassen kann, dass die anderen einen schon irgendwie verstehen.
    Um einen Bullen wirklich zu verstehen, muss man selbst Bulle sein – früher oder später kriegt das in unserem Job jeder mit.
    Aber alles verstehen und alles voneinander wissen sind zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe. In jeder Familie gibt es Geheimnisse.
    Auch auf dem Revier.
    Daran musste ich denken, als Albrecht die Tür zum Tatzimmer öffnete.
    Im letzten Moment hatte er eine halbe Sekunde gezögert, als ob er etwas geahnt hätte. Aber wie hätte das möglich sein sollen?
    Doch was war schon unmöglich bei Jörg Albrecht?
    Ich stand zwei Schritte hinter ihm. An seinem Rücken vorbei konnte ich einen Teil des Raumes erkennen. Die Spurensicherung – Martin Euler und sein Team – war noch bei der Arbeit. Euler war gerade dabei, am Boden irgendwelche Partikel zu sichern. Als er den Chef sah, kam er langsam aus der Hocke hoch und strich sich eine Strähne seines aschblonden Haares aus der Stirn. Sein Gesicht hatte heute Nacht beinahe dieselbe Farbe – und ein paar Falten, die dort sonst nicht zu sehen waren.
    In unserem Job bekommt man eine Menge Leichen zu sehen. In den ersten Jahren beim Kommissariat habe ich sie gezählt. Ich denke, das passiert ganz automatisch. Irgendwann habe ich damit aufgehört, ohne dass ich genau sagen könnte, wann und aus welchem Anlass.
    Aber ich muss nur die Augen zumachen, und ich kann mir jede einzelne von ihnen wieder ins Gedächtnis rufen.
    Sie verfolgen mich nicht im Traum, zumindest die allermeisten nicht, aber wirklich vergessen kann ich keine von ihnen.
    Das Bild aber, das sich uns hinter der Tür im
Fleurs du Mal
bot, wird mich bis zum Tag meines Todes begleiten.
    Albrechts Gestalt war im Türrahmen zu einer Salzsäule erstarrt. Ich war mir nicht sicher: Sollte ich froh sein, dass ich in diesem Moment sein Gesicht nicht sehen konnte? Seine allererste Reaktion, das Begreifen, was er vor sich hatte: Vielleicht hätte ich das noch weniger ertragen können als den Anblick des Zimmers.
    Manche unserer Leichen sehen tatsächlich so aus, als würde da jemand einfach nur schlafen. Eine Kugel in den Kopf oder der berühmte stumpfe Gegenstand. Manchmal hat das Opfer gar keine Zeit mehr, Angst zu empfinden oder Schmerzen. Ich kann mich an eine ganze Reihe von Toten erinnern, die vor allem grenzenlos überrascht wirkten. Sie hatten überhaupt nicht begriffen, was da gerade passierte.
    Das war hier nicht der Fall.
    Ich hatte Ole Hartung gekannt. Neun Jahre lang, so lange ich auf dem Kommissariat arbeitete. Kriminaloberkommissar Hartung war ein echtes Fossil auf der Dienststelle, länger dabei als Albrecht selbst. Sein Büro befand sich ein paar Türen von meinem entfernt, und ab und an hatten wir einen Einsatz zusammen gehabt, doch für mich gehörte er nicht zum engeren Kreis der Familie.
    Doch ich kannte ihn, mein Gott! Ich hatte diesen Mann in den letzten neun Jahren fast jeden Tag gesehen. Tausend winzige Erinnerungssplitter schossen mir durch den Kopf: der Betriebsausflug auf der Bille, als er einen über den Durst getrunken hatte. Seine Tochter, die sich beim Girls’ Day das Kommissariat angesehen hatte. Der Stromausfall, bei dem er zwei Stunden lang mit einem Zeugen im Aufzug festgesteckt hatte.
    Ole Hartung, Glatze, mehr als ein paar Pfunde zu viel und zwei Jahre vor der Pensionierung. Ein Mann, den ich kannte – und doch kaum wiedererkannte.
    Die Apparatur, die den größten Teil des Tatzimmers einnahm, erinnerte an einen Gynäkologenstuhl. Möglicherweise war es sogar ein
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