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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst
Autoren: Stephan M. Rother
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ausrangiertes Möbel aus einer Arztpraxis, von denselben Leuten aufgemotzt, die auch für die Sofas in der Eingangshalle zuständig waren. Die Ketten und Lederfesseln, mit denen der Körper auf dem Gerät fixiert war, gehörten jedenfalls nicht zur Originalausstattung.
    Die toten Augen waren weit aufgerissen. Sie schienen mich anzustarren. Es kam mir vor, als ob Hartung noch immer darum kämpfte, ein Wort hervorzubringen. Doch das war natürlich unmöglich. Zum einen, weil er ganz eindeutig tot war und die schwarze Nylonstrumpfhose, mit der er offenbar erdrosselt worden war, noch um seinen Hals lag, zum anderen, weil in seinem Mund etwas steckte, was ich bei meinem ersten, sekundenkurzen Besuch in dem Raum für einen Knebel gehalten hatte.
    Erst jetzt fiel mein Blick auf die Blutlache, die sich zwischen seinen gespreizten Beinen auf dem Boden gebildet hatte.
    Natürlich war überall Blut, Hartung war nicht schnell gestorben. Doch nirgends an seinem Körper konzentrierte sich die Farbe von schimmerndem Rost so stark wie an der Stelle, an dem seine Genitalien gewesen waren.
    Nun steckten sie in seinem Mund, ein unförmiger, blutiger Klumpen. Daher, und nicht etwa von einer Schlagverletzung, stammte auch das Blut, das über sein Gesicht und den Hals gelaufen war.
    Hartung war nackt, ausgenommen die Beine, die in halterlosen Strümpfen steckten. Der Rest war fahles Fleisch, übersät mit einem Muster dunkler Striemen. Aus seinem Anus ragte ein …
    Ich will es nicht sehen! Ich will es nicht wissen!
    Ein greller Blitz flammte auf. Einer von Eulers Mitarbeitern hatte ein Foto gemacht. Jedes Detail der Auffindungssituation musste dokumentiert werden, bevor irgendwas verändert wurde.
    Dokumentiert, für alle Zeit festgehalten. Diese Aufnahmen würden unter Verschluss bleiben, doch das änderte nichts: Dies würden die letzten Bilder sein, die an Kriminaloberkommissar Ole Hartung, einundsechzig, verheiratet, zwei Kinder, erinnerten.
    Die dunkelsten Geheimnisse eines Menschen, die er selbst vor denen hütet, die ihm nahestehen, vor seiner Familie – gerade vor ihr. Und wir, seine Familie vom Kommissariat, durften uns ihnen nicht verweigern. Wann immer ich mich an Hartung erinnerte, würden diese Bilder zu mir kommen.
    «Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie hier fertig sind.»
    Jörg Albrechts Stimme kam aus einer anderen Welt. Er machte auf dem Absatz kehrt. Ich stolperte zurück ins Vorzimmer und beobachtete, wie er die Tür hinter sich schloss, bevor er sich zu mir umwandte.
    Keine Chance mehr, seinem Blick auszuweichen.
    ***
    Die wenigsten Menschen konnten gleichzeitig denken und reden.
    Jörg Albrecht verfluchte sich, dass er zu ihnen gehörte.
    In Endlosschleife lief die Erinnerung vor seinem geistigen Auge ab, während er zuhörte, ein oder zwei Mal eine Zwischenfrage einwarf. Hannah Friedrichs schilderte ihm die Details, den Anruf auf dem Revier, der um drei Uhr zweiundzwanzig eingegangen war, den Bericht der Streifenbeamten, die als Erste vor Ort gewesen waren.
    Albrecht hörte zu, er sprach, doch gleichzeitig befand er sich an einem anderen Ort, in seinem Büro auf dem Kommissariat, ein paar hundert Meter Luftlinie vom
Fleurs du Mal
entfernt und mehrere Monate in der Vergangenheit.
    «Seltsam, dass du immer als Erstes an mich denkst, wenn’s um die Sitte geht.» Ole Hartung stieß ein glucksendes Lachen aus, das sein Doppelkinn zum Schwabbeln brachte.
    Albrecht biss die Zähne zusammen. Natürlich hatte Hartung einen Spiegel zu Hause, und natürlich wusste er sehr genau, warum ausgerechnet er für diese Sorte Aufträge ausgewählt wurde: Es gab einfach keinen anderen Beamten auf der Dienststelle, dem man den schmierigen Puffbesucher so bereitwillig abnahm.
    Jörg Albrecht gönnte dem Mann seine Heiterkeit. Er hatte eine Weile gezögert, bevor er Hartung schon wieder auf so einen Fall ansetzte.
    Selbstverständlich gab sich das Kommissariat alle Mühe, jede einzelne Kaschemme rund um die Reeperbahn im Blick zu behalten, doch angesichts der Personalsituation war das schlicht unmöglich. Was allerdings das
Fleurs du Mal
anbetraf, hatte es in den letzten Wochen ein paar Gerüchte gegeben: Videoaufnahmen der betuchten Kundschaft in voller Aktion, mit denen sich jemand etwas dazuverdienen wollte. Womöglich sogar der Betreiber selbst.
    Von Gefahr im Verzug konnte nicht die Rede sein, doch wenn an der Geschichte etwas dran war, betraf sie gesellschaftliche Kreise, die in der Politik nicht ohne Einfluss waren. Und der
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