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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst
Autoren: Stephan M. Rother
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vorspiel
    D ie Augen sind unsichtbar, Schatten inmitten von Schatten.
    Seit Stunden sind sie reglos auf die Szenerie gerichtet.
    Flutlichter färben den Horizont über dem Hafenviertel in den Tönen eines düsteren Regenbogens. Die Umrisse von Industrieanlagen ragen schwarz in den Himmel.
    Aber das ist weit entfernt.
    Auf dem verlassenen Gelände zwischen einer heruntergekommenen Schrebergartensiedlung und den Verladerampen des Raffineriehafens herrscht Dunkelheit.
    Es ist ein Ort wie geschaffen für einen Menschen, der von der Welt vergessen werden will. Ein Ort, an dem sich niemand freiwillig aufhält, ausgenommen die allgegenwärtigen Ratten.
    Hier, am Rande einer Ablaufrinne und fast unsichtbar zwischen den Skeletten abgestorbener Bäume, steht das Wohnmobil. Es ist fahrbereit. Der spärliche Grasbewuchs der Zufahrt wird kurz gehalten, die TÜV -Plakette am rostigen Heck ist noch gültig. Die Flucht aus dem stinkenden Winkel am Rande des Nirgendwo scheint jede Minute möglich.
    Doch der Mann wird nicht fliehen. Es gibt keinen Ort, an den er verschwinden könnte. Und selbst wenn, so wäre es ein Ort, der diesem hier zum Verwechseln ähnlich sähe: vernichtet, zerstört, verpestet von Chemiegestank wie das Innere seiner Seele.
    Die Augen befinden sich mehr als hundert Meter Luftlinie entfernt. Sie blicken durch einen Feldstecher mit Restlichtverstärker.
    Seit zwei Stunden hat sich am Wohnmobil nichts gerührt. Die Schatten sind tiefer geworden, und durch eine ausgeblichene orangefarbene Gardine dringt eine Ahnung von Helligkeit.
    Jetzt sind hinter dem Vorhang undeutliche Bewegungen zu erahnen. Er ist wach. Man könnte die Uhr nach ihm stellen. Wenn der letzte Schimmer Tageslicht vom Himmel verschwunden ist, wird er lebendig.
    Die Metalltür des Wohnmobils öffnet sich ohne das geringste Geräusch. So verrostet der Kasten nach außen hin auch wirkt: Alles ist auf dieses eine Ziel ausgerichtet – unsichtbar zu sein, unhörbar. Vergessen von der Welt.
    Geduckt schiebt sich der Mann ins Freie. Für das bloße Auge ist alles grau an ihm, sein Haar, seine Kleidung, das unrasierte Gesicht. Doch der Infrarotsensor fängt die blasse Wärme seines Körpers ein, flackernd, als könnte sie jeden Moment verlöschen.
    Die Augen hinter dem Feldstecher blinzeln kein einziges Mal. Sie verfolgen den Weg des grauen Mannes: Humpelnd bewegt er sich auf die Baumreihe zu, nutzt jede Deckung, bis er nach wenigen Schritten schwer gegen einen der Stämme sinkt. Heftig atmend hält er inne. Ziellos schweift sein Blick in sämtliche Richtungen. Er wittert. Er spürt die Bedrohung.
    Sie ist ein Teil von ihm, hat ihn niemals verlassen. Dreiundzwanzig Jahre lang. Und doch ahnt er nicht, wie nahe sie ihm seit einigen Wochen ist.
    Er ahnt nichts von ihrer Natur, weil er glaubt, sich all die Jahre bereits in der Hölle zu befinden. Doch da irrt er, wie ein Mensch nur irren kann.
    Mit einem Keuchen löst sich der graue Mann aus dem Schutz der Bäume, hastet voran. Durch die Okulare des Nachtsichtgeräts sind die Augen ganz nah bei ihm, doch da ist noch mehr: eine Verbindung, die über die bloße Beobachtung mit den Augen eines Fremden hinausgeht, Gedanken und Gefühle einbezieht.
    Der panische Rhythmus seines Atems nimmt noch zu, als der graue Mann ächzend der Vorortsiedlung entgegenstolpert. Der Kiosk liegt achthundert Meter entfernt, die eine Hetzjagd auf Leben und Tod sind, jeden Abend wieder.
    Die Weite der offenen Fläche will ihn auseinanderreißen, die Enge zwischen den Bäumen ihn ersticken.
    Die Bilder sind überall, doch hier draußen scheinen sie zu leuchten, zwingen sich mit greller Härte auf die Innenseite seiner Lider. Er ist unfähig, die Erinnerungen auszulöschen. Er versucht zu fliehen, doch es gibt keinen Ort, an den er fliehen könnte vor den Bildern, die in ihm sind.
    Er lebt. Die Augen hinter dem Feldstecher weiten sich triumphierend. Er lebt, und jeder Tag, jede Nacht ist die Hölle.
    Alles ist ganz genauso, wie es sein sollte. Und längst noch nicht genug.
    Er kann nicht ahnen, dass es gerade erst begonnen hat.

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eins
    S ie wundern sich, warum gerade ich Ihnen diese Geschichte erzähle?
    Klingt seltsam, ich weiß. Wenn man bedenkt, wie Jörg Albrecht in die ganze Sache hineingeschlittert ist – und warum –, sollte ich so ziemlich der letzte Mensch sein, der sich ein Urteil erlauben könnte, was die ganze Zeit in seinem Kopf vorgegangen ist.
    Um ganz ehrlich zu sein: Mit
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