Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Titel: Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Der träumende Wurm

    Am Morgen ihres letzten Tages in Aelenium besuchte Jolly den Hexhermetischen Holzwurm.
    Sein Haus im Dichterviertel der Seesternstadt war schmal, gerade breit genug, um einer niedrigen Tür und einem Fenster nebeneinander Platz zu bieten. Wie überall in Aelenium gab es auch hier keine rechten Winkel und kaum eine gerade Wand. Die Gebäude der Stadt waren aus dem elfenbeinähnlichen Material der Koralle gearbeitet, manche auf natürliche Weise gewachsen, anderen von Steinmetzen und Künstlern geschaffen.
    »Ich bin’s«, rief sie, als sie an dem Wächter vorbeitrat und die Tür öffnete. »Jolly.«
    Sie hatte nicht mit einer Antwort gerechnet und bekam keine. Sie wusste, wie es um den Wurm stand. Hätte sich sein Zustand verändert, hätte man sie darüber in Kenntnis gesetzt.
    Jolly schloss die Tür hinter sich. Das, was sie dem Hexhermetischen Holzwurm zu sagen hatte, ging den Posten nichts an. Zudem fürchtete sie, Munk könnte ihr gefolgt sein und sich unbemerkt hinter ihr ins Haus stehlen. Dass er ihr Gespräch mit dem Holzwurm mit anhörte, war das Letzte, was sie wollte.
    Dies hier war ihr Abschied. Ihrer ganz allein.
    Sie stieg die unregelmäßigen Treppenstufen hinauf ins obere Stockwerk. Dort, im größten Raum des Hauses, hing der Wurm in seinem Kokon und träumte.
    Das Zimmer unter dem Kuppeldach war zu einem guten Teil mit dem feinen Gespinst ausgefüllt, das der reglose Körper des Wurms absonderte - das einzige Zeichen, dass noch Leben in ihm war.
    Vor einigen Tagen, als die ersten Anzeichen seiner Verpuppung sichtbar wurden, hatte Jolly gebeten, dass man ihn im Palast unterbringen möge, sogar in ihrem eigenen Zimmer. Doch Urvater und der Geisterhändler hatten das abgelehnt. Sie hatten ihre Entscheidung nicht begründet.
    Jolly war nicht wirklich überrascht gewesen. Sie und Munk waren die beiden wichtigsten Menschen Aeleniums, das wurde ihnen immer wieder eingeredet. Keinem Unbefugten war es erlaubt, ihnen zu nahe zu kommen. Schon gar nicht etwas, das womöglich aus dem Kokon schlüpfen würde, wenn der Wurm seine Verpuppung abgeschlossen hatte. Falls etwas schlüpfen würde.
    »Hallo, Wurm.«
    Jolly blieb vor dem Wall aus Seidenfäden stehen. Die Fenster der Dachkammer waren mit lichtdurchlässigen Stoffen bespannt worden, zum Schutz vor Blicken aus den gegenüberliegenden Häusern, aber auch, weil man fürchtete, hungrige Möwen könnten den wehrlosen Kokon entdecken. Verglaste Fenster gab es nur in den Herrschaftspalästen Aeleniums, nicht aber in den Unterkünften des einfachen Volkes; hier schützte man sich vor Wind und Wetter mithilfe hölzerner Läden, die zugleich auch das Licht aussperrten. Das Gewebe, das man stattdessen vor die Fenster des Speichers gespannt hatte, machte die einfallende Helligkeit milchig und verwischte die Ränder der Schatten. Im ganzen Raum gab es nirgends mehr einen scharfen Übergang zwischen Licht und Dunkel, alles ging ineinander über, vermengte sich.
    »Hallo«, sagte Jolly noch einmal, weil der Anblick des unheimlichen Seidendickichts ihr mehr zusetzte, als sie erwartet hatte. Buenaventure, der Pitbullmann, kam zweimal am Tag hierher, um nach dem Rechten zu sehen. Er hatte ihr von seinen Besuchen erzählt, aber dies war das erste Mal, dass sie das Ausmaß der Verpuppung mit eigenen Augen sah.
    Die Seidenfäden waren zu einem gewaltigen Netz verwoben, das sich vom Boden bis zu den Dachschrägen erstreckte - einem Spinnennetz nicht unähnlich, nur viel feinmaschiger und ohne ein offensichtliches Muster. Das geisterhafte Fadendickicht reichte mehrere Schritt in die Tiefe. In seinem Zentrum hing eine ovale Verdickung -der Kokon des Wurms. Er schien zu schweben. Die Fäden, die ihn auf Schulterhöhe über dem Boden hielten, waren fast unsichtbar.
    Der Hexhermetische Holzwurm war inmitten des Kokons nicht mehr zu erkennen, seine Form verbarg sich unter einer handbreiten Schicht aus Seide. Nur ein schwaches Pulsieren verriet, dass er lebte.
    »Das ist ziemlich… beeindruckend«, sagte Jolly unsicher. Der Anblick schien ihren Mund zu verkleben, so als füllte auch er sich mit dem Gespinst. »Ich hoffe, es geht dir gut da drinnen.«
    Der Wurm antwortete nicht. Buenaventure hatte sie gewarnt: Gespräche mit ihm waren derzeit eine einseitige Angelegenheit. Trotzdem war der Pitbullmann überzeugt, dass der Wurm sie hören konnte. Jolly war sich dessen nicht ganz so sicher.
    »Du hast uns allen einen ziemlichen Schrecken eingejagt«, sagte sie. »Du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher