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Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus
Autoren: Martin Wehrle
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Firma noch viel weiter: Wenn ein Mitarbeiter morgens nicht am Arbeitsplatz war, wurde eine lange Fahndung eingeleitet, um herauszufinden: War er …
    a.) … im Urlaub?
    b.) … erkrankt?
    c.) … plötzlich verstorben?
    In den ersten beiden Fällen galt die Regelung, sich selbst um einen Stellvertreter zu kümmern. Ein offizieller Dienstweg, etwa Urlaubsanträge, war so unbekannt wie die DVD im Spätmittelalter. Und der dritte Fall (»Lebt er eigentlich noch?«) kam ins Gespräch, als ein junger Mitarbeiter einfach nicht mehr auftauchte. Seine Telefonnummer? Hatte niemand parat. Seine Postanschrift? Galt nicht mehr. Erst Wochen später wurde bekannt: Er war zu einer anderen Firma gewechselt. Eine offizielle Kündigung hatte er, ganz Dschungelkind, nicht für nötig gehalten.
    Die einzige Ordnung im Chaos: Die Firma spaltet sich in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die Oberschicht besteht aus denen, die von Anfang an mit dabei waren, den Pionieren. Sie stehen an der Spitze, mittlerweile auch mit ihren Gehältern. Die Unterschicht besteht aus allen, die den Anfang verpasst und sich später hinzugesellt haben. Sie gelten als Zugereiste, als Diener der Gründungsfürsten.
    Wenn die Firma genug Geld hat, sich erstklassige Mitarbeiter zu leisten, haben es sich auf den Führungssesseln schon die Insassen der ersten Stunde bequem gemacht. Diese Amateure leiten nun hochqualifizierte Profis an. Das ist so, als ließe ein Kreisligaverein nach seinem Bundesligaaufstieg immer noch Hobbyspieler auflaufen – und verbannte die inzwischen erworbenen Profis ins zweite Glied.
    Der Pionierverein, angeführt vom Gründer, hält wie Pech und Schwefel zusammen. Alle Beschlüsse, die über die Anschaffung eines Bleistiftspitzers hinausgehen, machen die alten Haudegen unter sich aus. Am liebsten nach Feierabend, etwa an der Bar. Die Neuen sind verzweifelt. Dort, wo sie den Dienstweg vermuten, ist gar nichts.
    Und der Gründer? Nach wie vor will er wie ein Dorfbürgermeister regieren. Doch sein Terminkalender quillt über, sein Telefon klingelt permanent, und sein Mailfach ist voller als die örtliche Mülldeponie. Er schafft seine Arbeit nicht mehr – die Arbeit schafft ihn. Wichtige Vorgänge bleiben auf der Strecke. Mitarbeiter bekommen keine Termine. Meetings fallen aus. Kundenanfragen bleiben ohne Antwort.
    Der Dschungel überwuchert den Erfolg. Jetzt wird’s gefährlich.
    Betr.: Als ich vor der verschlossenen Firma stand
    Es passierte in der Zeit, als unsere Firma allmählich von 15 auf 60 Mitarbeiter aufstockte. Ich war drei Wochen in Urlaub gewesen. Erster Arbeitstag, ich gehe in großen Schritten auf die Firmentür zu – doch pralle zurück. Sie ist abgeschlossen. Nanu, wir haben doch schon 8.00 Uhr. Die ersten Kollegen fangen sonst um sieben an.
    Ich klingele. Nichts tut sich. Ich schaue auf das Gebäude. Nichts regt sich. Ich warte auf weitere Kollegen. Niemand kommt.
    Verdammt, was war hier los? War mein Arbeitgeber pleitegegangen, während ich urlaubte? Und hatte es niemand für nötig gehalten, mich zu informieren? Bei all dem Chaos, das ich in den letzten Monaten erlebt hatte, hätte mich das nicht gewundert.
    Eine Kollegin, die auch aus dem Jahresurlaub kam, stieß nach fünf Minuten zu mir. Beide hatten wir keinen Schlüssel für das Gebäude – und erst recht keine Ahnung, was hier gespielt wurde.
    Was tun? Per Handy rief ich einen Kollegen an. Als er sich meldete, hörte ich fröhliche Bierzelt-Musik im Hintergrund. »Wir sitzen hier gerade im Bus«, erzählte er. »Hat euch denn keiner gesagt, dass heute der Betriebsausflug ist?« Diese Tour war kurzfristig anberaumt worden. Man hatte schlicht übersehen, dass zwei im Urlaub waren. Es gab ja keine Personalabteilung – diese Arbeit machte die völlig überforderte Sekretärin mit.
    Saudummes Gefühl, bei einem Ausflug nicht dabei sein zu können. Und ein Wunder, dass auf der Fahrt kein Mitarbeiter verloren gegangen ist. Es hätte gut zu dieser Chaos-Firma gepasst.
    Alexander Dremmler, Projektleiter
    3. Stadtkultur
    Wenn die Schäden nicht mehr zu übersehen sind, wenn Rechnungen nicht gestellt, Gehälter nicht beglichen, Steuern nicht bezahlt wurden, wenn die ersten Mitarbeiter in den Wahnsinn getrieben, zum Heulen gebracht oder als Sündenböcke vom Hof gejagt worden sind – irgendwann mitten im Chaos dämmert die Erkenntnis: »Wir brauchen Regeln!«
    Bis dahin war oft nicht klar, worin die Aufgabe eines Mitarbeiters eigentlich besteht (mangels
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