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Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus
Autoren: Martin Wehrle
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mit hoher Fluktuation galten als schlecht geführt. Doch heute, in Zeiten des Personalabbaus, begrüßen es viele Irrenhäuser, wenn sich zweibeinige Kostenstellen ohne Kündigungs-Tritt aus der Anstalt verabschieden (das kostet keine Abfindung!). So kommt es zu der grotesken Situation, dass Personalvertreibung statt -führung durch das Prinzip des Profit-Centers auch noch belohnt wird, etwa durch höhere Prämien.
    Einige Branchen neigen zur Wanderkultur. Zum Beispiel ist die Fluktuation der Arbeitskräfte im Hotelgewerbe, in der Werbung oder in den Unternehmensberatungen deutlich höher als in der Autoindustrie oder in der Energiewirtschaft.
    Der Irrsinn kann sich in allen Kulturen einnisten, doch ich habe beobachtet: Je älter ein Unternehmen wird, desto hartnäckiger setzt er sich fest, desto konsequenter breitet er sich aus und desto schwerer ist er zu tilgen. Stellen Sie sich das wie bei einem Baum vor: Ist er frisch gepflanzt, lässt er sich mit etwas Kraft aus der Erde ziehen. Aber wurzelt er seit Jahrzehnten und hat Größe gewonnen, dann lässt er sich nicht mehr bewegen. Es sei denn mit der Axt.
    Die folgenden Kapitel liefern Ihnen ein paar Beispiele, welche grotesken Blüten der Irrsinn in deutschen Firmen treibt und welche Rolle die Mitarbeiter dabei spielen.
    § 3 Irrenhaus-Ordnung: Alle Dummheiten, die eine Firma früh begeht, sind durch ihre Jugend entschuldigt. Alle Dummheiten, die sie später begeht, durch die Abwesenheit ihrer Jugend.
    Der Honecker-Effekt
    Was glauben Sie: Hat sich Erich Honecker, der Staatsratsvorsitzende der DDR , für einen guten Jäger gehalten? Und ob! Jedes Mal, wenn er zur Jagd ging, liefen ihm die kapitalsten Hirsche, die fettesten Wildschweine, die stolzesten Rehe vor die Flinte. Niemand schoss so viel wie Honecker. Er hielt sich für den Schützenkönig der Wälder, für einen vorzüglichen Waidmann.
    Und auch andere hohe SED -Tiere, von Willi Stoph bis Günter Mittag, konnten sich für ihre Jagderfolge auf die Schulter klopfen. Dass die Herren ihr Revier einmal verließen, ohne Beute gemacht zu haben – wie bei anderen Jägern üblich –, kam so gut wie nicht vor.
    Dieser phänomenale Jagderfolg basierte auf einem kleinen Geheimnis: Honecker jagte in einem Revier, der Schorfheide nordöstlich von Berlin, das in Wirklichkeit kein Revier war – sondern ein mit Tieren gefüllter Freilichtzoo. 5
    Um Honeckers Jagdareal hatten fleißige Untertanen in aller Stille einen Zaun gezogen. Nicht mal ein Hase konnte aus dem Revier heraushoppeln, wenn der SED -Chef mit seiner Flinte durch den Wald zog.
    Gleichzeitig waren Dutzende von Forstmeistern im Einsatz, die rund um die Uhr so viele Hasen, Rehe und Rothirsche heranschafften, dass es fast schwerer war, vorbeizuschießen als zu treffen. Die »Abschussbücher« sprechen eine deutliche Sprache: Pro Jahr machte Honecker hundert Hirschen den Garaus, dazu noch ebenso vielen Rehen und Hasen. Sein spektakulärster Jagderfolg: An einem einzigen Abend strecke er mit einem Kugelhagel fünf Hirsche nacheinander nieder.
    Honecker und Co. wünschten sich »Waidmanns Heil« – und wären nie auf die Idee gekommen, dass ihre Glanzleistungen als Jäger nur eine Illusion, nur das künstliche Produkt eines überbesetzten Jagdreviers waren.
    Genau dieses Spielchen findet jeden Tag in den deutschen Irrenhäusern statt. Die Irrenhaus-Direktoren sind die Jäger, die Insassen präparieren das Revier. Das Bild der Wirklichkeit, das die Chefs präsentiert bekommen, hat nichts mit den Tatsachen, aber viel mit den Wunschphantasien der Chefs zu tun. Die Geschäftszahlen, die Kundenzufriedenheit, die Verkaufserwartungen werden so lange frisiert, bis die Mitarbeiter davon ausgehen können: Der Chef wird zufrieden sein!
    Ein Beispiel für dieses Verhalten habe ich aus nächster Nähe erlebt. Der Verleger eines mittelständischen Verlages für Hobby-Zeitschriften, ein Mann mit prominentem Namen, hatte einen hohen Anspruch. Die Blätter seines Verlages sollten überall erhältlich sein, sogar im letzten Dorfkiosk. Er predigte seinen Mitarbeitern, dass die Zeitschriften nur dort verkauft würden, wo sie auch ausliegen. Immer wieder zitierte er den Vertriebsleiter zu sich, um zu hören, welche Fortschritte das Vertriebsnetz machte.
    Der Vertriebsleiter benahm sich wie ein Kellner: Sein Chef hatte Erfolgsmeldungen bei ihm bestellt – und er servierte sie auf dem Silbertablett. Das Problem war nur: Diese Erfolge gab es in Wirklichkeit gar nicht. Der
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