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Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus
Autoren: Martin Wehrle
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ein absoluter Randposten, war als Geldfresser angeprangert und durch einen Zaun aus strengen Regularien begrenzt worden.
    Jetzt galt die »Vier-Stunden-Regel«, von den Mitarbeitern spöttisch »Hartz IV« genannt. Für alle Sitzungen unter vier Stunden durfte das Catering nicht beansprucht werden. Kein Wasser. Kein Kaffee. Keine Speisen. Wer also an einem heißen Julitag fünf verschwitze Investoren aus Finnland zu Gast hatte, die gerade einen Millionenauftrag platzieren wollen, durfte ihnen nicht mal ein Glas Wasser anbieten.
    Von Keksen ganz zu schweigen. Denn in derselben Firma, die ihre Gäste über Jahre mit Feinkost-Gebäck verwöhnte, hat »Lean Costing 2015« den Fruchtgenuss entdeckt. Bei Sitzungen von über vier Stunden – und nur dann! – darf für jeden Teilnehmer ein Stück Obst bestellt werden. Seither ist es ein gewohntes Bild, dass die Meeting-Teilnehmer mit klebrigen Birnenfingern an ihren Tagungsunterlagen festpappen.
    Gab die Geschäftsleitung zu, dass die Gastfreundschaft (und damit auch die Kundenbetreuung und -gewinnung) dem Rotstift zum Opfer gefallen ist? Nein, die Umstellung auf Obst wurde den Mitarbeitern als Wohltat verkauft. In einer Hausmitteilung hieß es, der Firma sei am gesundheitlichen Wohl ihrer Mitarbeiter und Gäste gelegen. Und da die schädliche Wirkung von gezuckerten Plätzchen hinreichend bekannt sei, habe man beschlossen …
    Das Sparschwein lief durch alle Etagen. Nur zur Vorstandsetage hatte es wieder mal keinen Zutritt. Dort wurde – wie das Catering-Personal verlauten ließ – nach wie vor feinstes Gebäck serviert. Und abends floss Champagner.
    Aber wie ging es den Gästen der Abteilungen? Jenen Kunden, die mit ihren Aufträgen das Unternehmen finanzierten, die seit Jahren mit Gebäck und Wasser bewirtet worden waren? Nun war das höchste der Trinkgefühle noch ein kleines Fläschchen Wasser (denn mehr ist auch bei Sitzungen von über vier Stunden nicht gestattet!). Könnte man sich eine härtere Ohrfeige, ein deutlicheres Signal der Geringschätzung vorstellen?
    Am Anfang waren die Kunden erschüttert. Dann griffen einige zur Selbsthilfe: Sie brachten Dosen mit Gebäck, Flaschen mit Wasser, Thermoskannen mit Kaffee in die Sitzungen mit. Natürlich wurden diese Rationen brüderlich mit den Mitarbeitern des Weltkonzerns geteilt. Gäste bewirten ihren Gastgeber – wie peinlich.
    Auf diese Weise war meine Klientin Jana Heimfeld auch an die Kekse des Geschäftspartners aus Saudi-Arabien gekommen. Sie erinnert sich: »Das war schon ein irres Gefühl, als ›der Scheich‹ – wie wir ihn heimlich nannten – auf einmal den Sitzungsraum verlässt, zum Shop latscht und dann mit zwei Keksdosen unterm Arm zurückkommt und sie rumreicht. Alle haben sofort zugelangt, ich auch. Wir hatten Hunger!«
    Doch nicht sämtliche Kunden fanden es lustig, einen Rotstift in den Bauch gerammt zu bekommen. Einige haben aus dieser Behandlung ihre Konsequenzen gezogen und sind mit ihren Aufträgen zu Wettbewerbern abgewandert.
    Wenn Irrenhäuser kürzen, fällt mir immer wieder auf: Die Direktoren sehen genau, wie viel Geld eine Kürzung spart. Aber sie übersehen konsequent, wie viel Geld sie kostet. Wer eine Flasche Wasser oder einen Keks einspart, dafür aber einen Kunden vergrault, einen Millionenauftrag einbüßt, einen Investor verschreckt – der hat unterm Strich ein verdammt schlechtes Geschäft gemacht.
    § 5 Irrenhaus-Ordnung: Wer einen Cent spart, ist auch dann ein Held, wenn der Sparvorgang zwei Cent gekostet hat.
    Die Wäsche des Irrsinns färbt ab
    Wie wirkt es sich auf einen Mitarbeiter aus, wenn er jeden Tag am Irrsinn schnüffelt? Wenn er für seinen Chef eine Scheinwelt à la Honecker bastelt? Wenn er von seiner Geschäftsführung zum zweibeinigen Keks-Sparschwein erklärt wird? Oder wenn der Umgangston in seiner Firma so rau ist, dass jedes Affengeschnatter als zivilisiert gelten muss?
    Wie die Krankheit eines Baumstamms zwangsläufig in seine Äste vordringt, so greift der Firmen-Irrsinn zwangsläufig auf das (Privat-)Leben der Mitarbeiter über. Geben Sie mir zehn Minuten Zeit, um mit dem Beschäftigten einer beliebigen Firma zu sprechen – und ich sagen Ihnen danach, wie seine Firma tickt bzw. nicht richtig tickt, ohne dass er explizit darüber gesprochen hätte.
    Neulich habe ich mit einer Versicherungskauffrau telefoniert, um einen Beratungstermin zu vereinbaren. Sie legte großen Wert darauf, dass ich ihr den Termin noch einmal bestätigte – »bitte
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