Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus
Autoren: Martin Wehrle
Vom Netzwerk:
Stellenprofilen), wer einen Anspruch auf welche Leistung hat (mangels Gehaltsstruktur) oder dass vielleicht doch eine Personalabteilung und eine Buchhaltung vonnöten wären.
    Ein Teil der »Pioniere« schafft es, die eigene Macht in der Stadtkultur zu erhalten. Der Rest stößt an seine Grenzen: Die frisch gegründete Personalabteilung reklamiert, dass man diese Dilettanten nichts führen lassen darf, höchstens ein Tagebuch. Einige Pioniere werden degradiert.
    »Stadtkultur« bedeutet auch: Das Unternehmen wird anonymer. Statt mit dem Gründer täglich zu plaudern, sprechen die Mitarbeiter nur noch mit ihrem Abteilungsleiter. Statt alle Kollegen zu duzen, kennen sie von den Neuen kaum mehr die Namen. Und statt eine Aufgabe von Anfang bis Ende im Alleingang durchzuziehen, laufen die Mitarbeiter oft nur noch Sprints, ehe sie das (nun sauber definierte) Ende ihrer Kompetenzen erreicht haben und die nächste Abteilung den Staffelstab übernimmt.
    Mit jeder Regel, die eingeführt wird, nimmt die Beweglichkeit des Unternehmens ab. Die Bürokratie lähmt Entscheidungen. In dieser Phase habe ich es schon erlebt, dass wichtige Beschlüsse – etwa ein Angebot, auf das der Kunde gewartet hat – nur deshalb aufgeschoben wurden, weil ein Gremium nicht komplett war (in größeren Unternehmen urlaubt immer jemand!), ein Etat schon ausgeschöpft oder den Abteilungen der Machtkampf untereinander wieder einmal wichtiger als die Interessen des Unternehmens.
    Die Stadtkultur regelt alles. Die Gehälter werden gruppiert, die Personalakten gepflegt, die Arbeitszeiten erfasst. Kein Schritt ist mehr möglich, ohne sich im Spinnennetz der Bürokratie zu verfangen: Vor den Räumen der Firma wird eine Stempeluhr postiert, vor die Dienstreise ein Antrag geschaltet, vor die Einstellung ein Auswahlverfahren. Jeder Vorgang, der komplizierter als das Hochfahren eines Computers ist, artet in einen bürokratischen Prozess aus (siehe auch Seite 127). Die Formalie feiert Feste. Die Vernunft wird zum Zaungast.
    Zum Beispiel stand ein Klient von mir vor folgendem Problem: Einer seiner Mitarbeiter betreute ein wichtiges Kundenprojekt, hatte einen Motorradunfall und meldete sich sechs Wochen krank. Es war klar: Der Mitarbeiter musste für diese Zeit ersetzt werden. Blitzschnell. Doch die Personalabteilung teilte meinem Klienten mit, der Etat für Zeitarbeitskräfte sei leider schon aufgebraucht.
    Sein Argument, dass ein Auftrag mit sechsstelligem Umsatzvolumen an diesem Arbeitsplatz hinge, stieß auf taube Ohren. Die Personalabteilung verwies ihn an die Geschäftsleitung. Die Geschäftsleitung verwies ihn zurück an die Personalabteilung. Und wenn sie nicht gestorben sind, suhlen sie sich noch heute in ihrer Bürokratie – während der Kunde ein langes Gesicht macht. Das ist die irre Seite der Stadtkultur.
    4. Wanderkultur
    Ein Kommen und Gehen wie im Taubenschlag, ein ständiger Wechsel der Mitarbeiter – das ist typisch für eine Wanderkultur, die der Stadtkultur nicht folgen muss, aber kann. Wer hier arbeitet, will dem Irrenhaus entfliehen. Kaum haben die Mitarbeiter eine solche Firma betreten, suchen sie auch schon nach dem Notausgang, einem neuen Job. Wenn sie doch ein oder zwei Jahre bleiben, dann nur dem Lebenslauf zuliebe. Und gegen ihre Überzeugung.
    Ich kenne eine solche Firma im IT-Bereich. Die durchschnittliche Verweildauer liegt hier bei unter zwei Jahren. Der Grund sitzt auf dem Chefsessel: Der Direktor dieses Irrenhauses erwartet von seinen Mitarbeitern, dass sie einen Begriff aus ihrem Wortschatz streichen – Feierabend. Die Arbeitstage dauern von 9.00 bis 21.00 Uhr. Wer früher nach Hause will oder gar das Geständnis ablegt, er habe auch noch ein Privatleben, wird von allen Seiten mit Giftpfeilen beschossen.
    Irrsinnigerweise gelingt es den Mitarbeitern nicht, sich gegen ihren Chef zu solidarisieren. Vielmehr mutieren sie zu Wachhunden und schlagen an, wenn ein Kollege später kommt oder früher geht. Und sie beißen zu, wenn sich dieser Vorgang wiederholt. Weil sie selbst Gefangene dieser Unternehmenskultur sind, können sie offenbar nicht ertragen, dass sich andere mehr Freiheit nehmen. Kaum einer hält das länger als zwei Jahre aus.
    Meist stinkt der Fisch vom Kopf her. Das gilt auch für Abteilungen. Ich kenne Unternehmen, wo die Mitarbeiter es in der einen Einheit im Schnitt zwölf Jahre aushalten, während es in der nächsten nur zwölf Monate sind. Früher war das gefährlich für den Vorgesetzten, denn Abteilungen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher