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Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus
Autoren: Martin Wehrle
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handelt gleich »die Wachstumsstory«.
    Betr.: Ich arbeite für eine Windmaschine
    Unsere Firma ist eine einzige Windmaschine. Das mag typisch für eine Werbeagentur sein, aber wir schießen den Vogel ab. Unser Ruf in der Branche ist erstklassig. Und warum? Wir betreuen zwei deutsche Top-Firmen. Und diese Namen posaunen wir bei jeder Gelegenheit hinaus.
    Was aber kein Mensch von außerhalb weiß (und ich auch nur durch eine Indiskretion): Diese Aufträge, mit denen wir trommeln, sind gar keine Aufträge. Es sind Geschenke an die Kunden. Wir texten Slogans, fahren Kampagnen und betreuen die Homepages. Doch unsere GL hat einen schrägen Deal vereinbart: Wir erbringen unsere Leistung für ein besseres Trinkgeld, einen nichtigen Betrag – im Gegenzug dürfen wir die Namen dieser Firmen stolz auf unsere Fahnen schreiben.
    Diese Kunden ziehen die meiste Arbeitskraft auf sich, spülen aber kaum Geld in die Kasse. Und die Sogwirkung, die sie entfalten sollen, hält sich in Grenzen: Die anderen Konzerne, die wir dringend als zahlende Kunden bräuchten, denken offenbar: »Mehr als zwei Großkunden schaffen die nicht!«
    Wir sperren die Tür, durch die normal zahlende Großkunden spazieren sollen, durch einen Bluff selbst zu. Völliger Irrsinn, zumal Einnahmen fehlen. Die Gehaltszahlungen kommen immer wieder verzögert. Unsere halbe Firma besteht schon aus Praktikanten. Keiner von denen weiß, dass ihr »Geschäftsmodell« mit dem der Agentur identisch ist: Arbeiten ohne Vergütung, nur für den klangvollen Namen im Lebenslauf.
    Bitte behandeln Sie diese Angaben vertraulich und verändern Sie alle Namen und wiedererkennbaren Fakten (das ist hier und auch bei allen folgenden Fallgeschichten geschehen, M.W.).
    Tanja Klever, Werbetexterin
    § 2 Irrenhaus-Ordnung: Menschen, die durchdrehen, kommen ins Irrenhaus. Mitarbeiter, die durchdrehen, arbeiten schon für eines.
    Die Wachstumsstory:
Wie Firmen (irrsinnig) groß werden
    Wo kommt der Irrsinn her? Das fragen sich die Psychiater seit Jahrhunderten. Gründliche Therapeuten graben den Misthaufen der Vergangenheit so lange um, bis es nicht nur ordentlich stinkt, sondern die Ursachen für jedes psychische Problem aufgedeckt sind. Wer von seinem Vater zu wenig Anerkennung und von seiner Mutter zu viel Lakritze bekommen hatte, dessen Psyche musste ja vom Gleis springen!
    Leider haben Firmen eine unpraktische Eigenschaft: Sie sind zu groß, um sich mal eben auf eine Couch legen zu können. Selbst wenn das möglich wäre, würde der »Patient Firma« nicht mit einer Stimme sprechen. Ein Unternehmen hat so viele Münder wie Mitarbeiter, vom Gründer bis zum Portier würden alle durcheinander reden. Das ließe auf eine schwere Schizophrenie schließen.
    Und doch spielt die Entwicklung eine Rolle. Was für ein Menschenleben die Sozialisation ist, der prägende Weg von der Geburt ins Erwachsenenleben, ist für Firmen ihre Gründungsphase. Welche Rolle spielt dabei die Persönlichkeit des Gründers? Muss das, was ein Irrer sich ausdenkt, zwangsläufig auch in Irrsinn ausarten?
    Oder gibt die Geschäftsidee den Ausschlag? Muss eine Werbeagentur, um sich verrückte Ideen auszudenken, nicht selbst ein wenig verrückt sein? Wird eine Unternehmensberatung, die täglich Weisheiten verkauft, ohne sie zu besitzen, nicht zwangsläufig schizophren? Und ist ein Marktführer, an dessen Festung ständig Konkurrenten rütteln, nicht für den Verfolgungswahn prädestiniert?
    Und nicht zuletzt: Welchen Einfluss haben die Irrenhaus-Direktoren auf das (geistige) Befinden ihrer Mitarbeiter? Kann ein Chef, der sich wie ein Brüllaffe aufführt, zivilisierte Mitarbeiter erwarten? Oder muss ein Fisch, dessen Kopf nach Wahnsinn stinkt, bis zum Schwanz denselben Geruch haben?
    Diese Fragen zeigen Ihnen: Ein Blick in den Lebenszyklus der Firma, von der Gründungsphase bis zur Etablierung, kann äußerst spannend sein – um dem Irrsinn auf die Schliche zu kommen.
    Es gibt vier Firmenkulturen, die oft ineinander übergehen. 3
    1. Dorfkultur
    Die meisten Gründer, die ich beraten habe, hatten eine Gemeinsamkeit: Sie verstanden nichts vom Gründen. Ihre Geschäftsidee war ihnen zugeflogen wie ein buntes Vögelchen, das sie aufpäppeln wollten. Aber wie bloß?
    Gründung – dieses Thema ist in Deutschland so tabu, als wäre es eine unappetitliche Krankheit. In der Schule lernt man bestenfalls, wie die Weimarer Republik gegründet wurde. Aber Unternehmertum? Pfui Teufel, damit wird immer noch der fette Kapitalist
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