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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus
Autoren: Martin Wehrle
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potenzieller Dieb, Blaumacher, Spesenbetrüger, Cheflästerer und Betriebsspion gesehen, bis das Gegenteil erwiesen ist. Das Gegenteil ist frühestens dann erwiesen, wenn der Mitarbeiter gefeuert ist. Gerne lässt man Mitarbeiter von Detektiven beschatten, die ihnen »Delikte« nachweisen, die für eine Kündigung reichen. Zum Beispiel könnte nach der Toilettennutzung auffallen, dass weniger Klopapier auf der Rolle ist als zuvor. In diesem Fall ist von einem Diebstahl auszugehen!
    W erte: Natürlich gibt es Werte, die in den Irrenhäusern als heilig gelten, da wären: der Wert der Immobilien, der Wert des Fuhrparks und der Wert des Anlagevermögens. Alle Werte stehen in der Bilanz auf der Haben-Seite, Mitarbeiter stehen unter »Soll«. Und die ideellen Werte, der höhere Sinn? Darauf reimt sich: höherer Gewinn!
    Z ahlengläubigkeit: Was Mitarbeiter sagen, hat nichts zu heißen. Aus ihrer Zwergenperspektive sehen sie alles falsch. Je lauter die Mitarbeiter jammern, desto richtiger war eine Entscheidung. Ebenso glaubt der Irrenhaus-Direktor: Wenn die Kunden laufen, dann laufen sie nicht vor dem neuen Produkt weg (wie von den Mitarbeitern behauptet), sondern rennen der Firma die Tür ein. Das meint er so lange, bis ihm die Zahlen in der Bilanz das Gegenteil beweisen, also frühestens kurz vor der Pleite.
    Rote Zahlen sind für ihn wie rote Ampeln: Jetzt drückt er auf die Etatbremse. Diese Bremse ist dort, wo die Mitarbeiter sind. Besser gesagt: waren!
    Â§ 2 Irrenhaus-Ordnung: Bei allem, was die Firma tut, steht die Belegschaft stets im Mittelpunkt. Vor allem bei: Intrigen, Abmahnungen, Entlassungswellen.
    Eine Bombe im Bundestag
    Wer den Deutschen Bundestag ausschalten will, hat zwei Möglichkeiten: Er zettelt eine Revolution an. Oder er schreibt eine E-Mail. Die Mail ist eine virtuelle Bombe, ein modernes Kampfmittel gegen Arbeitskapazität. Ihre Sprengkraft ist so groß, dass eine Atombombe daneben wie ein Chinaböller erscheint.
    In Schlachten wird geschossen, in Firmen wird gemailt. Diese Schüsse peitschen rund um die Uhr. Die Kultur des Vier-Augen-Gespräches torpedieren sie, das logische Denken drängen sie zurück, und lapidare Vorgänge blasen sie zu Welt-Ereignissen auf, wenn eine Mail als Querschläger mehr Empfänger erreicht als nötig. Die typische Irrenhaus-Mail erfüllt zwei Eigenschaften: Sie verfehlt ihr Ziel. Und sie ist überflüssig.
    Die nichtige Mail gleicht dem Besen von Goethes Zauberlehrling: Sie vermehrt sich auf wundersame Weise. Der Empfänger einer belanglosen Mail will alle Welt wissen lassen, dass er eine belanglose Mail erhalten hat, weshalb er seinerseits eine belanglose Mail schreibt; die Abkürzung CC steht dabei für Chaos-Club. Die eine Hälfte ihrer Arbeitszeit verbringen die Irrenhaus-Insassen damit, ihre Maileingänge zu sichten. Und die andere Hälfte geht fürs Antworten drauf. Fürs Denken zwischendurch bleibt keine Zeit.
    Was der Bundestag damit zu tun hat? Er repräsentiert nicht nur das Volk – sondern auch die Firmen-Irrenhäuser! Dieser Aufgabe kommt unser Parlament in vorbildlicher Weise nach, wie sich im Januar 2012 zeigte. 7 Die Irrsinns-Kostprobe begann mit einer Mail, geschrieben von einer Mitarbeiterin der Grünen-Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl: »Liebe Britta, wenn Ihr Euch eindeckt, bringt Ihr mir eins mit?« Gemeint war kein Schnäppchen aus dem Supermarkt, sondern ein frisch eingetroffenes Bundestags­handbuch. Die Mail endete mit dem (politisch) korrekten Gruß: »Danke und herzliche Grüße: Babette«.
    Babette hätte jedoch eigentlich ein ganz anderes Handbuch ­benötigt: das kleine Einmaleins des Mailens. Denn beim Verschicken drückte sie nicht auf »Antworten«, sondern auf »Allen ant­worten«. Der Unterschied liegt bei einem Wort – und bei 3999 Empfängern; rund 4000 Menschen gehören zum Gesamtverteiler des Bundestages.
    Und so wurde eine »Lesung« der ganz besonderen Art ein­geläutet: Der komplette politische Betrieb in Berlin, die 620 Ab­geordneten, ihre persönlichen Mitarbeiter, die Kanzlerin, die ­Minister, der Bundestagspräsident – ihnen allen wurde diese ­di­plomatische Depesche zur gleichen Zeit ins Postfach gepresst.
    Kleine Rechnung: Wenn jeder Empfänger mit der Mail eine Minute beschäftigt war, hat dieser Irrläufer rund
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