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Titel: iBoy
Autoren: Kevin Brooks
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Wer? Warum? Wo? Wann?
    Was sollte ich sagen?
    Keine Ahnung   …
    Ich kann mich nicht erinnern   …
    Weiß nicht genau   …
    Es dauerte endlos. Fragen um Fragen, Stunde um Stunde, Tag um Tag   … und erst am Donnerstagabend gelang es mir, ein bisschen Zeit für mich zu haben. Ich wusste, es würde nicht lange sein – Gram war nur schnell zum Einkaufen gegangen und die Polizei wollte später noch mal vorbeikommen und mit mir reden   –, deshalb vergeudete ich keine Zeit, sondern schnappte mir meine Jacke, verließ die Wohnung und lief nach oben aufs Dach.
    |288| Und endlich war ich wieder da – ich saß allein am Rand der Welt und sah zu, wie die Sonne unterging. Es war ein milder Abend, die Luft ruhig und klar und der Himmel war in ein Abendrot getaucht, das einen an lange, heiße Sommertage denken ließ. Doch als ich dort auf dem Dach saß und den Horizont anstarrte, konnte ich mir überhaupt keine kommenden Tage vorstellen. Morgen, nächsten Mittwoch, nächsten Monat, nächstes Jahr   … es gab dort nichts für mich, überhaupt nichts. Es gab nichts hinter dem Horizont.
    Nicht für mich.
    Mein armer Sinn war noch zerstückt.
    Ich schloss die Augen und sah in mich hinein.
     
    Ich sah die Vergangenheit, die letzten paar Tage, gestern   … ich sah Gram neben mir auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzen, die ergrauenden Haare um die genähte Kopfwunde bis auf den Schädel abrasiert, und hörte, wie ich ihr das meiste von dem erzählte, was Ellman über meine Mutter, ihre Tochter, gesagt hatte. Und ich sah die Tränen in Grams Augen, als ich sie fragte, ob irgendwas davon wahr sei.
    »Georgie war kein schlechter Mensch«, hatte sie mir erklärt und dabei traurig gelächelt. »Doch sie war immer ein bisschen wild, ein bisschen rebellisch   … nicht dass ich das schlimm fand   … aber als sie ungefähr siebzehn war, wurde es zu viel, verstehst du   … sie hat sich mit den falschen Leuten eingelassen, fing mit Drogen an   …« Gram schüttelte den Kopf, als sie sich dran erinnerte. »Sie hatte ihren Weg verloren, Tommy. Und du weißt, was das hier in der Gegend heißt, deinen Weg zu verlieren   …«
    »Kannte sie Ellman?«
    Gram nickte. »Weißt du, er war
der
Mann hier   … jeder |289| wollte Howard Ellman kennen. Er hatte die Drogen, er hatte Geld, Autos, Mädchen   …« Sie seufzte. »Georgie fand ihn
aufregend
. Ich hab versucht, ihr zu sagen, wie er in Wirklichkeit war, aber das wollte sie nicht hören   …«
    »Hat sie   …?«, fragte ich zögernd. »Ich meine, haben die beiden   …?«
    »Miteinander geschlafen?« Sie nickte wieder. »Georgie war die meiste Zeit nicht bei Sinnen – sie wusste nicht, was sie tat   …«
    »Ellman hat sie eine Hure genannt«, sagte ich leise.
    Gram sah mich mit tränenfeuchten Augen an. »Deine Mum hat viele Fehler gemacht, Tommy. Wie ich schon sagte, sie hatte ihren Weg verloren   … aber am Ende hat sie wieder zu sich zurückgefunden. Als sie feststellte, dass sie schwanger war, hat sie sich zusammengerissen, ist von den Drogen runtergekommen und kam auch von Ellman los   … und dazu gehörte verdammt viel Power, verdammt viel Mut.« Gram machte eine Pause und legte ihre Hand auf meine Schulter. »Sie war deine Mutter, Tommy. Wenn sie noch lebte, würde sie dich genauso lieben wie ich, und du würdest sie auch lieben.«
    Und ich sah, wie wir uns festhielten und uns beide die Augen ausheulten, und ich hörte noch einmal, wie sich Gram wieder und wieder dafür entschuldigte, dass sie mir nicht früher die Wahrheit über Mum gesagt hatte, und ich hörte, wie sie versuchte, mir zu erklären, sie hätte die Wahrheit nicht vor mir verborgen, weil sie sich wegen Mum
schäme
oder so, sondern nur, weil sie nicht einsah, was es mir bringen sollte, die ganzen hässlichen Details ihres Lebens zu kennen.
    Und das verstand ich.
    Denn auf genau die gleiche Weise sah
ich
nicht ein, was es Gram bringen sollte, die ganzen hässlichen Details zu kennen, die Ellman über Mum erzählt hatte. Sie musste nicht wissen, |290| dass Ellman sie möglicherweise umgebracht hatte oder dass er vielleicht   … nur vielleicht   … sogar mein Vater war   …
    Sie brauchte diesen Schmerz nicht.
    Deshalb behielt ich es für mich.
     
    In mir   …
     
    Ich konnte auch die Gegenwart sehen. Ich sah zwei Tote in der Leichenhalle liegen: Gunner mit zur Hälfte weggerissener Brust und Eugene O’Neil. Die Explosion seines Handys hatte die Oberschenkelarterie durchtrennt, weshalb er am
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