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iBoy

iBoy

Titel: iBoy
Autoren: Kevin Brooks
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Lucy hinüberblickte, sah ich, dass sie sich nicht bewegte. Sie kniete nur da und schaute nirgendwohin, während Ellman das Messer wieder auf sie zuführte.
    Ich schloss die Augen
    Wir griffen jetzt beide hinaus – iBoy und ich   –, wir griffen hinaus in den Cyberspace, griffen an den Myriaden von Bahnen entlang, von Basisstation zu Basisstation   … von Akkuzelle zu Akkuzelle   … von Handy zu Handy   … rund um die Welt   … wir stellten die Verbindung her   … die Verbindung zu tausend |280| Handys, Millionen Handys, Milliarden Handys   … und auf irgendeine Art bekamen wir überall Zugang, schafften eine Verbindung, wiesen sie alle an, die sechs Nummern in diesem Lagerhaus anzurufen.
    Ich öffnete die Augen.
    Eine halbe Sekunde war vergangen. Ellmans Messer hatte Lucys Nachthemd durchbohrt, jetzt zog er die Klinge langsam immer weiter, durchtrennte den dünnen weißen Stoff   … und Lucy verharrte absolut still.
    Ich schloss schnell wieder die Augen, trat wieder in mich zurück und versuchte, meinen pochenden Herzschlag zu ignorieren. Wir hatten jetzt alle Anrufe zur Verfügung – eine Million, ein Milliarde eingehende Anrufe – und wir hielten sie alle auf, ließen sie in Scharen warten und gleichzeitig fokussierten wir unsere elektrische Energie, konzentrierten sie, dirigierten sie, schickten sie über die Funkwellen in das Lagerhaus, in die Akkus der sechs Handys. Wir luden sie auf,
überluden
sie, überfütterten sie mit jeder Unze an Energieladung, die wir zur Verfügung hatten   …
    Und als ich die Augen wieder öffnete, wusste ich gleich, dass
etwas
geschah. In dem gelblichen Schein der Wandleuchte sah ich, dass Ellman das Vorderteil von Lucys Nachthemd aufgeschlitzt hatte und O’Neil mit gierigem Blick schaute. Ellman hielt jetzt das Messer an Lucys Hals, führte ihren Kopf zu sich heran   … und dann plötzlich erstarrte er. Und ich sah, wie auch O’Neil hinter ihm einen Moment lang verwirrt guckte, schließlich nach unten auf die Tasche seiner Trackpants starrte, die Hand darauflegte und schnell wieder wegzog.
    Sein Handy wurde heiß.
    Genau wie die Handys der andern. Alle schauten nervös, |281| irritiert von der plötzlichen Hitze in ihren Taschen   … und jetzt, wusste ich, musste ich die Augen zum letzten Mal schließen und die Sache zu Ende führen. Ich musste die Augen schließen und mich wieder mit iBoy verbinden, zusammen mussten wir allen Handys einen letzten gewaltigen Stromstoß verpassen und gleichzeitig sämtliche wartenden Anrufe auslösen   … und dann konnten wir nur noch hoffen.
    Hoffen, dass die Handys explodierten.
    Und dass, wenn Hashims Handy losging, die Explosion uns nicht mitriss.
    Wir warteten einen Moment, nahmen eine letzte Einstellung vor, dann öffneten wir die Augen und gaben den Start frei.
     
    Die vier Explosionen erfolgten fast gleichzeitig –
WAM! WAM! WAM! WAM!
– und im nächsten Moment spürte ich, wie etwas in mich hineinkrachte. Einen Augenblick glaubte ich, Hashims Explosion hätte mich tatsächlich erwischt, aber der Schmerz war nur schwach, und als ich ein gequältes Stöhnen hörte, auf meine Füße schaute und dort Hashim am Boden liegen sah, das Hinterteil seiner Hose fortgesprengt und die Hälfte seines Arschs einfach weggerissen, begriff ich, dass ihn die Explosion von den Füßen gefegt hatte und er dabei in mich hineingekracht war.
    Er war übel zugerichtet. Überall war Blut. Fetzen von verkohltem Fleisch lagen auf dem Boden verstreut und ich sah die Spitze eines gebrochenen Knochens aus dem versengten und blutigen Krater in seinem Hintern ragen.
    Doch ich hatte keine Zeit zu verlieren.
    Schnell sah ich auf und überblickte das Lagerhaus, um sicher zu sein, dass Tweet, Gunner und Marek außer Gefecht waren. Nachdem ich festgestellt hatte, dass sie entweder schwer verletzt |282| oder – in Gunners Fall – vielleicht tot waren, konzentrierte ich mich auf Ellman, O’Neil und Lucy.
    Lucy war immer noch auf den Knien und starrte fassungslos auf das Blutbad, während Ellman und O’Neil nur rechts und links neben Lucy standen, zu schockiert, um sich zu rühren. Doch ich wusste, dass dieser Schockzustand nicht ewig anhalten würde, besonders bei Ellman nicht. Ich musste handeln. Sofort.
    »Lucy!«
, rief ich scharf.
»LUCE!«
    Als sie aus ihrer Erstarrung erwachte und zu mir herüberschaute, sah ich, wie auch Ellmans Blick in meine Richtung wanderte.
    »
Beweg
dich, Lucy!«, schrie ich. »Mach, dass du
weg
kommst von
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