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Titel: iBoy
Autoren: Kevin Brooks
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ihm.
LOS!
«
    Ellman kam schnell wieder zu sich, drehte sich zu Lucy um und versuchte, sie zu erwischen, bevor sie sich rührte, doch er war nicht schnell genug. Lucy hatte gar nicht erst versucht, von den Knien hochzukommen, sondern sich einfach zur Seite geworfen und über den Boden gerollt, jetzt rappelte sie sich hoch und stolperte durch das Lagerhaus auf mich zu.
    »Schnapp sie dir!«, blaffte Ellman O’Neil an.
    O’Neil zögerte einen Moment, dann lief er los. Und das war wohl der Moment, in dem ich hätte rufen, sie warnen können. Ich hätte O’Neil sagen können, er solle Lucy nicht hinterherrennen, sondern stehen bleiben, wo er war, und dann hätte ich sie beide daran erinnern können, was ich gerade mit den andern gemacht hatte, und sie auffordern können, darüber nachzudenken, wieso ihnen nichts passiert war   … An dem Punkt hätten sie sicher kapiert, dass der einzige Grund, wieso ich nicht
ihre
Handys hatte explodieren lassen, der war, dass sie zu dicht bei Lucy gestanden hatten   …
    |283| Das alles
hätte
ich tun können.
    Doch ich tat es nicht.
    Ich schloss nur kurz die Augen, tat, was ich tun musste, öffnete sie dann wieder und sah, wie O’Neils Trackpants vorn explodierten –
WAM!
– und seine Beine sich im Rennen irgendwie drehten und krümmten und er voll auf den Boden knallte und schrie und stöhnte und sich zwischen die Beine fasste, gerade als Lucy vor meine Füße stolperte – atemlos, heftig schluchzend, die Knie völlig zerkratzt und blutig. Wir sahen uns einen Moment an, lächelten unter Schmerzen, dann hob ich den Blick und starrte hinüber zu Ellman. Er hatte sich nicht gerührt. Er stand nur da und glotzte fragend auf O’Neil   … und ich glaube, in diesem Augenblick wusste er, dass alles vorbei war, dass seine Zeit gekommen war.
    Und das stimmte.
    Ich wartete, bis er mich ansah, und als er es tat – mich langsam mit seinen leeren blauen Augen fixierte   –, schaute ich kurz zurück   …
    Und danach sah ich ohne jede Empfindung zu, wie seine Brust explodierte.

|284| 11001
    … mein armer Sinn ist mir zerstückt.
     
    Johann Wolfgang von Goethe
    Faust, Teil I
(1808)
     
    Wieder Fragmente.
    Schnappschüsse.
    Unzusammenhängende Momente.
     
    … Lucy, wie sie auf die Beine kommt – die Knie völlig zerkratzt und blutig, Schnittwunden und Prellungen im Gesicht, ihr Nachthemd aufgeschlitzt   … und wir beide heulen uns die Augen aus
     
    … Lucys tastende Hände und ihr verzweifeltes Schweigen, als sie versucht, mich von dem Stahlträger loszukriegen – wie sie an dem Draht zieht, dreht und reißt und ab und zu flucht, wenn ihr das Metall in die Finger schneidet   …
    Scheiße.
    Verdammt.
    Dämliches beschissenes Mistding   …
     
    |285| … Lucy und ich, wie wir in dem mattgelben Licht stehen, uns festhalten, aneinanderklammern   … unsere Körper zittern, die Tränen strömen und keiner von uns kann oder will reden
     
    … und das Blutbad um uns herum. Körper, Blut, Fleischfetzen   … wir können darüber nicht nachdenken, nicht hingucken, uns nicht drum kümmern. Ob tot oder lebendig, wir können es uns nicht leisten, dass wir uns um sie kümmern.
    Wir müssen ganz einfach weg.
    Raus hier.
    Sie zurücklassen.
    Gehen   …
     
    … wie wir in den frühen Morgenstunden nach Hause laufen, wir beide zitternd vor Kälte und Schock, Lucy mit meiner Jacke über dem zerschnittenen Nachthemd   … und in meinen Socken und Turnschuhen humpelnd   …
    Alles okay mit dir?
    Ja   … nein.
    Wie wir uns an den Händen halten, uns festhalten, wie einer dem andern hilft.
    Okay?
    Ja   …
    Wir können nicht darüber reden – was passiert ist, was passieren
wird
, was ich getan habe, was es bedeutet   –, es ist alles zu viel für uns. Zu komplex, zu verwirrend   … Es gibt zu viele Fragen und zu wenige Antworten.
    Wir schaffen das nicht.
    Nicht jetzt…
     
    … |286| die Crow Lane, das Compton House, aufblitzende Blaulichter in der Dunkelheit   … die Polizei ist überall. Ich habe kaum Zeit, mich von Lucy zu verabschieden, ehe wir beide zur Befragung weggeführt werden.

|287| 11010
    … dass Liebe nicht darin besteht, dass man einander ansieht, sondern dass man gemeinsam in gleicher Richtung blickt.
     
    Antoine de Saint-Exupéry
    Wind, Sand und Sterne
(1939)
     
    Fragen. Das ist es, woraus die nächsten paar Tage fast ausschließlich bestanden: aus Fragen der Polizei, Fragen von Ärzten, Fragen von Gram   … Was ist passiert? Wie ist es passiert?
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