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Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht
Autoren: Sylvia Madsack
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der Vorspeise gab Joanna ihre Vorbehalte auf. Beim Hauptgang verspeiste sie alles mit solcher Lust, dass sie erst wieder aufsah, als sie alles aufgegessen hatte. Auf dem Zinnteller vor ihr lag das sauber abgenagte Gerippe, und sie spürte einen Anflug von Scham, als erneut die Bilder des Elends von den nächtlichen Straßen der Stadt vor ihr auftauchten.
    Sie hob ihr Weinglas und blickte in Tomas’ dunkle Augen. Erneut fragte sie sich, was in ihm vorgehen mochte. Mit geröteten Wangen griff sie zu ihrer Serviette und tupfte sich die letzten Spuren von Mund und Händen.
    »Schmeckt Ihnen der Wein aus Transsylvanien, Joanna?«
    Sie nickte, doch bevor sie etwas sagen konnte, begann das, was man ihnen als »Show« angekündigt hatte. Die Beleuchtung an den Tischen erlosch, alles Licht wurde auf die Bühne im hinteren Teil des Lokals gerichtet. Es war die typische Zusammensetzung einer kleinen Zigeunerkapelle mit Geige, Hackbrett und Kontrabass. Sobald im Raum Ruhe einkehrte, stimmten die Musiker eine lebhafte, sehr rhythmische Volksweise an. Für Joanna wirkte ihr Spiel etwas zu routiniert, doch das Publikum klatschte zufrieden. Zwei ähnliche Stücke folgten. Und dann geschah das Wunder.
    Ein dicklicher, verbraucht wirkender Mann um die sechzig trat aus dem Dunkel in den Kegel des Scheinwerfers und setzte eine Klarinette an die Lippen, während seine Kollegen ihren Einsatz abwarteten.
    Auf der Straße hätten die Menschen in diesem Raum den Mann kaum wahrgenommen, doch jetzt hielten sie schon nach wenigen Takten den Atem an, als er das Instrument mit einem strahlenden, beschwörenden Klang zum Leben erweckte. Die Klarinette jubilierte und klagte, sie sang von Sehnsucht und von Schmerz, von Momenten des Glücks und von zerbrochenen Träumen.
    Der Musiker verneigte sich kurz unter dem aufbrandenden Applaus, wandte sich zur Seite und tauschte die Klarinette gegen ein Tenor-Saxophon. Zärtlich, als halte er eine Geliebte, umfasste er es mit den Händen und begann zu spielen, während er mit wiegenden Bewegungen nach vorne auf die Bühne tänzelte.
    Geschmeidig lösten sich die Töne aus dem Instrument, stiegen zur Decke empor, glitten schwerelos wie Tautropfen zu Boden und erreichten etwas in Joannas Innerem, von dessen Existenz sie bis dahin nichts gewusst hatte. Sie bemerkte nicht, dass sich die Härchen an ihren Unterarmen aufgerichtet hatten und dass ihre Haut von einem feinen Schweißfilm überzogen wurde, all ihre Sinne waren diesem Klang ausgeliefert, der ihren Herzschlag beschleunigte und der sie so schmeichelnd zu umwerben schien, als sei er von Anfang an ausschließlich für sie bestimmt gewesen.
    Sie verstand nicht, was gerade mit ihr geschah, denn eigentlich, dachte sie in einem flüchtigen Moment der Besinnung, ging es nur um Musik. Doch dann trug das Spiel des Rumänen sie erneut fort, lockte sie, forderte sie heraus und verführte sie, bis sie sich endgültig ergab. Mit ihrem Weinglas in der Hand stand sie an die Wand hinter dem Tisch gelehnt und nahm erst wahr, als sich Tomas zu ihr gesellt hatte, dass auch die Gäste an den Nachbartischen aufgestanden waren.
    »Ich wusste nicht, dass Musik so klingen kann«, sagte sie leise und griff nach seiner Hand, als brauche sie Beistand. Er sah sie aus großen Augen an, ohne den Druck seiner Finger zu verstärken, aber auch ohne sich ihr zu entziehen.
    Der Musiker hatte die Bühne kurz verlassen und kehrte jetzt mit einem großen weißen Taschentuch zurück, das er in einer etwas theatralischen Geste an den faltigen Hals presste. Sobald es wieder still wurde, kündigte er als letztes Stück des Abends eine rumänische Volksweise an, doch Joanna wollte sich diese besondere Stimmung bewahren und keine weitere Musik mehr hören.
    »Ich möchte jetzt gehen«, flüsterte sie. »Und ich danke dir sehr für diesen Abend.«
    Er sah sie von der Seite an, dann hob er die Hand und verlangte die Rechnung. Erst als sie im Taxi saßen und unterwegs zu ihrem Hotel waren, richtete er wieder das Wort an sie: »Was möchtest du morgen unternehmen? Und wann wird Graf Stanislaw hier eintreffen?«
    Gedankenverloren blickte sie geradeaus, bis sie den Sinn seiner Frage verstanden hatte. »Ich habe den ganzen Tag Zeit, mein Vater wird erst gegen Mitternacht hier sein. Aber jetzt ist es spät geworden, und ich würde morgen gern in aller Ruhe ausschlafen. Komm doch gegen Mittag ins Hotel, dann sehen wir weiter.«
    Er starrte sie an. »Der Graf ist dein Vater?«
    »Ja«, erwiderte sie
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