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Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht
Autoren: Sylvia Madsack
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wie tote Augen auf den Betrachter herabstarrten.
    Unwillkürlich griff sie nach Tomas’ Arm.
    »Ich weiß, diese Stadt ist ein schrecklicher Ort, und ein empfindsamer Mensch wie Sie sollte nicht lange hier bleiben«, sagte er leise.
    Es war nicht leise genug gewesen, denn der Taxifahrer, ein hagerer älterer Mann mit verschlossenen Gesichtszügen, meldete sich zu Wort.
    »Verzeihen Sie, wenn ich mich einmische«, sagte er auf Englisch, »aber Sie haben recht. Bringen Sie die junge Lady weg aus dieser Stadt, in der alles wie vergiftet ist, zeigen Sie ihr etwas von der wahren Seele unseres Landes.«
    Tomas antwortete ihm in einer Sprache, die sich wie Ungarisch anhörte, und es kam zu einem kurzen, nicht unfreundlich klingenden Wortwechsel zwischen den Männern.
    Joanna wandte sich ihrerseits an den Taxichauffeur. »Was meinen Sie mit der wahren Seele Ihres Landes?«
    »Gehen Sie nach Siebenbürgen, junge Lady, Ihr Begleiter stammt ja von dort.«
    »Sie sprechen von Transsylvanien?«
    Er winkte ab. »Das ist dasselbe, nur ein anderer Name. Gehen Sie dorthin, Sie werden vielleicht etwas finden, das Sie nie gesucht haben.«
    Während Joanna verwirrt aus dem Fenster sah, fuhr das Taxi in eine Nebenstraße mit unerwartet gediegenen, kleineren Häusern und hielt vor einem Gebäude im Landhausstil.
    »Denken Sie an meine Worte!«, rief der Fahrer ihr nach, als Tomas bezahlt hatte und sie schon die paar Stufen zum Eingang des Restaurants hinaufgegangen war. Sie wandte sich um, doch das Taxi fuhr schon los. »Seltsamer Kauz«, sagte sie kopfschüttelnd, »worüber haben Sie beide gesprochen?«
    »Er ist ein ehemaliger ungarischer Priester, der seiner Kirche den Rücken gekehrt hat, und es gibt hier viele solche Schicksale. Die Geschehnisse in diesem Land haben die Menschen aus der Bahn geworfen.«
    Er hielt ihr die Tür auf. »Hoffentlich habe ich mit dem Lokal die richtige Wahl getroffen. Als ich hörte, dass Sie an einem Ort wie Marbella leben, war das eine echte Herausforderung für mich. Ich wusste sonst nichts über Sie, denn meine Tante hat keine weiteren Details erzählt. Ich konnte also alles falsch machen.«
    Joanna trat über die Schwelle. Eine Frau mittleren Alters, deren verwelkte Erscheinung durch zu stark blondiertes Haar und übertriebenes Make-up noch betont wurde, empfing sie und Tomas in einem Vorraum und bat um ihre Mäntel. »Bitte folgen Sie mir«, sagte sie mit einer ebenso einladenden wie bestimmten Geste.
    Wenn Joanna sich später an ihren ersten Abend in Bukarest erinnerte, fragte sie sich jedes Mal, welchem Zauber sie dort erlegen gewesen war, denn ihr erster Eindruck war der, in einer typischen Touristenfalle gelandet zu sein. Das angelaufene versilberte Geschirr, die mehrarmigen Leuchter auf den Tischen, die Säulen zwischen den Nischen, die Teppiche an Wänden und Böden, die schummerige Beleuchtung aus den gläsernen Appliken, die Ikonen ungewisser Herkunft, die überladene Tischdekoration, all das schien Teil einer Inszenierung zu sein, die dem Gast lediglich vorgaukelte, sich in einem Restaurant zu befinden.
    Die zu stark Blondierte hatte ihnen einen Tisch ganz vorn angeboten, damit sie die »Show« besser verfolgen könnten, doch bei diesem Wort war Joanna zusammengezuckt und hatte um einen Tisch weiter hinten gebeten.
    Kaum hatten sie sich gesetzt, erschienen zwei gut aussehende junge Männer in langen weißen Kellnerschürzen und überreichten ihnen die überdimensionalen Speisekarten mit einer Miene, als handle es sich um den Heiligen Gral.
    Joanna konnte ihre Skepsis kaum verbergen, und als sie sich in die Karte mit dem aus ihrer Sicht viel zu reichen Angebot an Gerichten vertiefte, fand sie sich in ihrer Einschätzung bestätigt. Aus Höflichkeit Tomas gegenüber und im Bewusstsein, dass sie sich in einem fremden Land aufhielt, unterdrückte sie jedoch kritische Äußerungen.
    Tomas hielt sich im Hintergrund, erklärte ihr Gerichte, die sie nicht kannte, übersetzte, wo das Englisch des Personals nicht ausreichte. Sie entschieden sich für einen gemischten Vorspeisenteller und für die gebratene Wildente nach Art des Hauses. Dazu bestellten sie einen Rotwein aus Transsylvanien.
    Die ganze Zeit blieb Tomas der umgängliche und zugleich reservierte Begleiter, als den sie ihn bis jetzt kannte. Doch es gab Momente, in denen er sich unbeobachtet glaubte, und dann bemerkte sie ein verstecktes Lächeln oder ein jähes Zusammenziehen seiner Augenbrauen.
    Das Essen wurde serviert, und schon bei
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