Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht
Autoren: Sylvia Madsack
Vom Netzwerk:
sollte.
    Im Vorbeigehen entdeckte er ein Plakat, das Daphnes nächstes Konzert in der Zürcher Tonhalle ankündigte. In wenigen Sekunden lief ein innerer Film in ihm ab. Er sah vor sich, welch glückliches Leben die geliebte Frau ohne ihn haben könnte, er sah ihre strahlende musikalische Karriere vor sich und eine Zukunft mit einem Gefährten, der aus ihrer eigenen Welt stammte und mit dem sie vielleicht eine Familie gründen würde, dazu Freunde, bei denen sie Beistand und Wärme finden könnte, all das eben, was zu einem erfüllten Menschenleben gehörte und er ihr nie würde geben können.
    Und so kam es, dass er sich zum ersten Mal in seiner Vampirexistenz gegen seine eigenen Interessen entschied. Später, so glaubte er damals, würde sie es verstehen und ihm dankbar sein, dass er sie verschont hatte. Er verschwand aus ihrem Leben und zog sich unerkannt in die Einsamkeit der Berge hinter Malaga zurück.
    Er hatte nicht damit gerechnet, dass es im Inneren einer liebenden Frau so anders zugehen könnte. Daphne war zunächst in einen Zustand wütender Verzweiflung geraten, so hatten es die ehemaligen gemeinsamen Weggefährten aus Zürich berichtet, danach hatte sich ihre verletzte Seele in eine Depression geflüchtet, aus der sie nicht mehr herausfand. Sie vernachlässigte nicht nur ihr Äußeres, sie gab auch ihre musikalische Karriere auf.
    Daraufhin entschloss sich ihr langjähriger väterlicher Freund Darius zu handeln. Er brachte Daphne dazu, ihn nach Andalusien zu begleiten, und arrangierte ein Zusammentreffen, dem Stanislaw nach einigem Widerstreben zustimmte. Voller Dankbarkeit dachte er an Darius, dieses wunderbare alte Urgestein. Wo wären sie ohne ihn?
    Ein Laut von der Hinterbank unterbrach seine Gedanken. Igor hatte sich aufgesetzt, presste die kräftige Schnauze gegen die Fensterscheibe und starrte hinaus. Seine Lefzen zuckten. Links von der Landstraße weidete eine Herde Schafe.
    »Nicht jetzt, Igor!«, warnte ihn die schneidende Stimme seines Herrn. »Wir wollen hier keinen Ärger.«
    Widerstrebend wandte sich der Wolfshund von den Schafen ab, scharrte eine Weile auf dem Rücksitz und ließ sich grummelnd nieder.
    Stanislaw unterdrückte ein Lächeln. »Und versuch beim nächsten Mal weniger zu scharren, das ist ein sehr wertvolles altes Auto, der Lederbezug ist noch original aus der Zeit.«
    Im Rückspiegel sah er, wie Igor träge ein Auge öffnete und sofort wieder schloss, als er sich beobachtet wusste.
    Um seinen Gefährten abzulenken, begann Stanislaw, ihm von Joannas bisherigen Erlebnissen in Bukarest zu erzählen. Als er bei der Stelle angelangt war, wo Joanna beinahe die Fenster des Mercedes beschädigt hätte, stand Igor hechelnd auf. Die lange, buschige Rute bewegte sich, die hellblauen Augen leuchteten. Offenbar gefiel ihm diese Episode.
    Ein Traktor kam ihnen entgegen, mit einem heftig hupenden Bauern am Steuer, der im Moment, als der Jaguar seitlich ausweichen musste und fast im Straßengraben landete, unflätig klingende Flüche ausstieß. Stanislaw ließ die Scheibe herunter und antwortete ihm auf Ungarisch. Der Bauer starrte das ausländische Kennzeichen an, dann die Gestalt hinter dem Steuer. Stanislaw fügte ein weiteres Wort hinzu, worauf der Mann sich bekreuzigte und mit seinem Traktor davonrumpelte.
    »Wie schön, dass ich endlich wieder Gelegenheit habe, mich in meiner Muttersprache zu verständigen«, sagte Stanislaw grinsend.
    Sie hatten Budapest bei anbrechender Dämmerung hinter sich gelassen. Die Fahrt am Plattensee entlang über die M 7 und dann durch die endlos scheinende Fläche der großen ungarischen Tiefebene empfand er als langweiliges Dahingleiten, vorbei an den typischen Ziehbrunnen, an vereinzelten Gehöften und ausgedehnten Weidelandschaften. Im Sommer, wenn die Kornfelder mit hellem Glanz überzogen waren, mochte diese Szenerie ihren eigenen Reiz haben. Jetzt hingegen, wo die Puszta so wenig Abwechslung bot, versank Stanislaw erneut in Erinnerungen.
    Er sah seinen Vater vor sich, einen lebenslustigen, warmherzigen Mann, den er als zehnjähriger Knabe durch einen Jagdunfall verloren hatte, dann seine Mutter, eine gebürtige Polin aus fürstlichem Adel und von unheilbarer Melancholie, die in Transsylvanien nie heimisch geworden war.
    Es war keine glückliche Verbindung gewesen. Wie hätte sich eine zarte, feinsinnige Frau wie seine Mutter auf die Dauer an einem solchen Ort wohlfühlen sollen, umgeben von dunklen Wäldern und fernab all dessen, womit sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher