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Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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Kapitel 1

    TORAK WEIGERTE SICH, es als böses Vorzeichen aufzufassen.
    Was da vor ihm im Schnee lag, war bloß eine ganz gewöhnliche Eulenfeder. Darum achtete er nicht weiter darauf. Das war sein erster Fehler.
    Leise ging er zu der Fährte zurück, der sie schon seit dem frühen Morgen folgten. Die Hufabdrücke schienen frisch zu sein. Torak zog den Handschuh aus und betastete sie. In den kleinen Mulden hatte sich noch kein Eis gebildet. Ja, die Abdrücke waren ganz frisch. Er drehte sich nach Renn um, die weiter oben am Hang wartete, tippte sich auf den Ärmel, hob den Zeigefinger und zeigte talabwärts auf den Buchenwald. Ein Rentier, läuft nach Süden.
    Renn nickte, zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. Wie Torak war sie mit ihrer hellen Kapuzenjacke und den Beinledern aus Rentierhaut im Schnee kaum auszumachen. Obendrein hatte sie sich das Gesicht mit Asche eingerieben, um ihren Geruch zu überdecken. Und wie Torak war sie hungrig, denn bis auf einen schmalen Streifen geräuchertes Wildschwein zum Tagmahl hatten beide noch nichts gegessen.
    Anders als Torak hatte Renn die Eulenfeder nicht entdeckt.
    Am besten sage ich ihr gar nichts davon, dachte er.
    Das war sein zweiter Fehler.
    Einige Schritt bergab beschnüffelte Wolf eine Stelle, wo das Rentier den Schnee weggescharrt hatte, um an die Flechten darunter zu gelangen. Er hatte die Ohren aufgestellt und sträubte das silbergraue Fell. Wenn er Toraks Unbehagen spürte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Er schnüffelte noch einmal, dann hob er die Schnauze in den Wind, und sein bernsteinfarbener Blick suchte den von Torak. Riecht nicht gut.
    Torak legte den Kopf schief. Wie meinst du das? , fragte er in der Wolfssprache.
    Wolfs Barthaare bebten. Krankes Maul .
    Torak ging hin, um es sich selbst anzuschauen, und entdeckte auf dem kahlen Erdboden einen winzigen gelben Eitertropfen. Wolf wollte ihm zeigen, dass das Rentier schon alt war und faule Zähne hatte, weil es viele Winter lang sandige Flechten geknabbert hatte.
    Torak krauste die Nase zu einem Wolfslächeln. Danke, Rudelgefährte. Er sah sich kurz nach Renn um und ging so leise bergab, wie es seine Biberpelzstiefel gestatteten.
    Aber längst nicht so leise wie Wolf, der vorwurfsvoll das Ohr drehte, als er lautlos wie Rauch durch den Schnee huschte.
    Seite an Seite schlichen sie zwischen den schlafenden Bäumen hindurch. Schwarze Eichen und silbrige Buchen glitzerten von Reif. Hier und da sah Torak hellrote Stechpalmenbeeren leuchten, wachte eine schlaflose dunkelgrüne Fichte über ihre schlummernden Schwestern. Der Wald schwieg. Die Flüsse waren zugefroren. Die meisten Vögel waren nach Süden gezogen.
    Bloß die Eule nicht, dachte Torak.
    Er hatte die Feder sofort als Eulenfeder erkannt. Die flaumige Oberseite dämpfte das Fluggeräusch, wenn die Eule jagte. Wäre es eine graue Waldeulenfeder gewesen, hätte er sich keine Gedanken gemacht, sondern sie einfach Renn zum Befiedern ihrer Pfeile gegeben. Diese Feder war aber gestreift, schwarz und gelbbraun, Schatten und Flamme. Das verriet Torak, dass sie von der größten und grausamsten Eulenart stammte, der Adlereule. Eine solche Feder war ein schlechtes Zeichen.
    Wolfs schwarze Nase zuckte.
    Torak war sofort hellwach.
    Hinter den Bäumen erspähte er das Rentier. Es knabberte gerade Bartflechten. Torak hörte die Hufe im Schnee knirschen, sah, dass dem Tier Atemwölkchen vor der Schnauze standen. Gut. Demnach pirschten sie sich immer noch gegen den Wind an. Torak vergaß die Feder und dachte nur noch an das saftige Fleisch und das nahrhafte Knochenmark.
    Hinter ihm knarrte kaum hörbar Renns Bogen. Auch Torak legte einen Pfeil ein, merkte dann aber, dass er Renn im Weg stand, und ließ sich auf ein Knie nieder, weil sie der bessere Schütze war.
    Das Rentier trat hinter eine Buche. Jetzt hieß es warten.
    Beim Warten fiel Torak eine Fichte auf, die ungefähr fünf Schritt den Hang hinunter stand. Der Baum breitete die schneebedeckten Arme aus … wollte ihn warnen …
    Torak fasste den Bogen fester und konzentrierte sich wieder auf das Rentier.
    Ein Windstoß fuhr in die Buchen ringsum und die Blätter des letzten Sommers raschelten wie trockene, tote Hände.
    Torak schluckte. Es kam ihm vor, als wollte ihm der Wald etwas sagen.
    Über seinem Kopf schwankte ein Ast und ein kleiner Schneeschauer rieselte auf ihn herunter. Torak blickte auf. Ihm stockte das Herz. Eine Adlereule. Mit gefiederten Ohren wie Speerspitzen und
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