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Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht
Autoren: Sylvia Madsack
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Eingreifen hatte im letzten Moment verhindert, dass die Fenster der Limousine in unzählige Teile zerbarsten. Das Geräusch des vibrierenden Glases war noch immer in ihrem Ohr.
    *
    Ihr Handy läutete, kaum dass sie im Zimmer war. Es war Stanislaw.
    »Wie geht es dir, mein Kind? Ist alles in Ordnung?«
    »Ja, ich bin inzwischen im Hotel. Einen Moment, es klopft, das wird das Gepäck sein … So, da bin ich wieder. Es geht mir gut, und dank deiner perfekten Organisation hat alles bestens geklappt. Tomas hat mich abgeholt, und …«
    »Tomas? Seid ihr schon per du?«
    »Nein«, sagte sie verwundert, »aber in unserem Alter ist man nicht so förmlich.«
    »Na gut«, erwiderte er seufzend. »Trotzdem wäre es mir lieber, wenn du eine gewisse Distanz wahrst.«
    »Stanislaw, wie ist die Verbindung zu Tomas zustande gekommen? Auf meine Fragen hat er mir eine ziemlich verworrene Geschichte über eine Tante von ihm erzählt, die du von früher kennst, mit der er aber anscheinend wenig zu tun hat.«
    Er schwieg einen Moment. Als er schließlich antwortete, hörte er sich verlegen an. »Dann weißt du jetzt wohl auch, dass es in seiner Familie eine ungarische und eine rumänische Linie gibt. Seine Tante Ewa stammt von rumänischen Zigeunern ab. Wir sind uns vor zwanzig Jahren in London begegnet, sie war dort auf einem parapsychologischen Kongress, und sie ist in diesem Land der einzige Mensch, dem ich vertrauen kann. Ihren Neffen Tomas kenne ich persönlich zwar nicht, aber sie hat sich für ihn verbürgt, und meine Recherchen vor unserer Abreise haben das bestätigt.«
    »Ich verstehe«, sagte sie leise.
    »Jetzt sag schon, wie ist Bukarest? Und was hast du heute Abend vor?«
    Sie berichtete ihm von ihren ersten Eindrücken, bis er sie unterbrach: »Du klingst irgendwie seltsam, ist sonst noch etwas passiert?«
    Und dann brach es aus ihr heraus, und sie erzählte von dem Vorfall im Wagen. Schweigend hörte er zu, während sie die Szene erneut durchlebte, ihren ungebremsten Zorn beim Anblick dieser seelenlosen, menschenverachtenden Bauten und den Aufruhr in ihrem Inneren. Genau in dem Moment musste es passiert sein.
    Ungewollt kehrten ihre Gedanken zu den Geschehnissen der letzten Zeit zurück. Wer weiß, überlegte Joanna, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn ihre Mutter nicht gerade vor wenigen Wochen zu einer Ferienreise in ihre alte englische Heimat aufgebrochen wäre, denn sie hätte Stanislaws Identität als Joannas Vater entdecken können und ein Treffen zwischen Vater und Tochter womöglich verhindert. So aber war alles anders gekommen.
    Noch immer wusste sie nicht, was für sie die größere Erschütterung gewesen war: das Erlebnis, endlich ihrem leiblichen Vater zu begegnen, oder das Erkennen, dass es sich bei ihm um ein Wesen aus einer anderen Welt handelte. Zwar verstand sie jetzt endlich, woher ihre paranormale Begabung stammte, doch zugleich musste sie der für sie noch immer ungeheuerlichen Tatsache ins Auge sehen, dass sie ein Zwittergeschöpf war, gezeugt von einem Vampir, geboren von einer sterblichen Frau.
    Bisher hatte sie es nicht über sich gebracht, ihn anders anzureden als mit seinem Vornamen, denn das Verhältnis zwischen ihnen war noch immer voller Scheu. Doch eines Tages würde sie vielleicht das Zauberwort aussprechen und ihn »Vater« nennen können.
    »Du hast Tomas gleich zu Anfang einen gehörigen Schrecken eingejagt«, seine Stimme holte sie in die Gegenwart zurück, »aber woher hätte ich wissen sollen, dass du so heftig auf etwas reagierst, das ich selbst nicht mal kenne? Ich bin seit Hunderten von Jahren nicht mehr in diesem Land gewesen, alles, was ich über das heutige Rumänien weiß, stammt von dritter Hand, aus der Literatur oder aus den Medien.«
    »Ich weiß nicht, wie ich Tomas das alles erklären soll«, erwiderte sie bedrückt.
    »Musst du es ihm denn erklären?« Seine Stimme war sanft. »Musst du dich dafür rechtfertigen, dass du so bist, wie du bist?«
    »Nicht so wie andere, meinst du wohl«, sagte sie bitter.
    »Ja, auch das. Sieh deine Fähigkeiten endlich als eine Gabe an und akzeptiere, dass dies ein Teil deines väterlichen Erbes ist, dem du nicht entkommen kannst. Und in dem Fall hat dich ein Gefühl zu dieser Tat verleitet, auf das du stolz sein solltest.«
    Seine Worte hatten so entschieden geklungen, dass sie nicht widersprach, obwohl ihr vieles auf der Zunge lag.
    »Stanislaw«, wechselte sie unvermittelt das Thema, »was ist mit Kyrill? Schließlich ist er
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