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Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht
Autoren: Sylvia Madsack
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Menschen. Bei ihrer überstürzten Abreise aus Spanien hatte sie keine Zeit gehabt, sich durch Lektüre vorzubereiten.
    »Übersetzt bedeutet es Boulevard der Einheit.« Seine Stimme klang bitter.
    Sie vertiefte sich in den Anblick der Parkanlagen, die hinter den Baumreihen hervorschienen. Nach der Tristesse der Vorstädte war dies ein unerwartetes Erlebnis, und als sie am Ende des langen Boulevards auf ein Bauwerk zusteuerten, das wie der Arc de Triomphe aussah, glaubte sie einen trügerischen Moment lang in Paris zu sein.
    Im nächsten Moment zerriss die Illusion. Direkt hinter dem Triumphbogen erwartete sie ein riesiger freier Platz mit einem von Blumenrabatten gesäumten Rondell und dahinter das monumentalste Gebäude, das sie jemals gesehen hatte.
    »Das größte Gebäude Europas und eines der größten der Welt«, erklärte Tomas.
    Sie vermochte seinen Tonfall nicht zu deuten. Um ihre Unwissenheit zu tarnen, murmelte sie: »Natürlich habe ich einiges gelesen, aber diese Geschehnisse liegen ja lange zurück.«
    In der Art eines professionellen Stadtführers begann er, ein paar Fakten zu nennen. »Ceaus¸escu hat dieses Bauwerk der Superlative in den achtziger Jahren als Verwaltungssitz erbauen lassen. Er nannte es ›Haus des Volkes‹, doch die Bukarester bezeichneten es spöttisch als ›Haus des Sieges über das Volk‹, auch, weil dafür ein Viertel der historischen Altstadt abgerissen wurde. Erst internationale Proteste geboten seiner Zerstörungswut Einhalt.« Jetzt klang nicht nur Bitterkeit aus seiner Stimme, sondern kaum verhohlener Hass. »Nicht nur unzählige Wohneinheiten wurden dafür zwangsgeräumt und abgerissen, sondern auch Kirchen und Synagogen. Nach dem Sturz des Regimes und nach der Hinrichtung des Diktators wurde dann lange diskutiert, ob man das Ganze nicht wieder abreißen solle, doch am Ende beschloss man, den Gebäudekomplex in ›Palast des Parlamentes‹ umzubenennen. Seitdem sind die rumänische Abgeordnetenkammer und inzwischen auch der Senat dort untergebracht.«
    Er sprach weiter, erzählte von der Geschichte des Baus und nannte statistische Zahlen, doch Joanna hörte kaum noch zu. Sie starrte auf diese zu Stein gewordene Monstrosität, und ehe sie sich dagegen wehren konnte, überschwemmten sie Bilder von Terror und Unterdrückung, von Folter und Mord, die ihr fast die Kehle zudrückten.
    »Man müsste das alles in die Luft sprengen«, sagte sie leise, als spreche sie zu sich selbst, »damit wenigstens diese Bauwerke nicht mehr an die Verbrechen erinnern!«
    Ihre linke Hand, die bis dahin in ihrem Schoß geruht hatte, zuckte, ballte sich zur Faust, schnellte in die Höhe und reckte sich dem Parlamentspalast wie ein Wurfgeschoss entgegen.
    »Vorsicht!« Tomas fing ihren Arm auf, doch die Glasscheiben der Limousine vibrierten bereits. Joanna hatte sie nicht berührt.
    Ihre Muskulatur erschlaffte, und ihr Arm sank kraftlos herab. Im nächsten Moment drang aus dem Fond des Wagens ein schwaches Geräusch zu ihr. Sie biss sich auf die Lippen und sank tief in ihren Sitz.
    Tomas war zusammengezuckt. Ungläubig starrte er sie von der Seite an, als könne er nicht fassen, was er da soeben erlebt hatte, doch dann musste er sich wieder auf den Verkehr konzentrieren. Schweigend fuhren sie weiter in die Stadt hinein. Vor einem prunkvollen Palais, das aus dem 19 . Jahrhundert stammen musste und jetzt einer internationalen Hotelkette gehörte, hielt er an. Er half ihr beim Aussteigen, und während er dafür sorgte, dass ein Angestellter des Hotels ihr Gepäck hineinbrachte, inspizierte sie so unauffällig wie möglich die Heckscheiben des Geländewagens.
    Bei genauem Hinsehen konnte man hinten auf der linken Seite das feine Netz entdecken, das sich wie ein kunstvolles Muster im Verbundglas der Scheibe ausgebreitet hatte, gerade so, als habe jemand mit einem schweren Gegenstand darauf eingeschlagen.
    »Gehen wir hinein?«, fragte sie rasch.
    Er gab dem Angestellten den Autoschlüssel und begleitete sie zur Rezeption. Nachdem sie alle Formalitäten erledigt hatten, fragte er: »Wann soll ich Sie wieder abholen? Ich soll Ihnen die Stadt zeigen, hieß es, und Sie in ein typisches Restaurant führen. Oder haben Sie andere Wünsche?«
    Im Moment sehnte sie sich nur nach einer Dusche und nach etwas Ruhe. »Geben Sie mir zwei Stunden«, sagte sie, »dann treffen wir uns wieder hier.«
    Als sie zum Lift ging, spürte sie seinen Blick im Rücken. Ihr war klar, dass er einige Fragen an sie hatte. Sein
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