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Honecker privat

Honecker privat

Titel: Honecker privat
Autoren: L Herzog
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Bei manchem lag die Linke vorm Teller oder wie in Skandinavien auf dem Schoß. Und dass das Besteck nicht zum Nachdruck der Rede diente, sondern ausschließlich zum Zerteilen des Fleisches schienen die wenigsten zu wissen. Lediglich ehemalige Sozialdemokraten, etwa Otto Grotewohl oder Friedrich Ebert, hantierten sehr kultiviert mit den Bestecken, sie kreuzten Messer und Gabel, wobei der Gabelrücken nach oben zeigte, womit man signalisiert, dass man noch nicht mit dem Essen fertig ist, oder sie legten die Werkzeuge parallel auf den Teller zum Zeichen, das abgeräumt werden konnte. Niemand von ihnen wäre auf den Gedanken gekommen, den leeren Teller zur Mitte des Tisches zu schieben, um uns aufzufordern, endlich abzuräumen und den nächsten Gang zu servieren.
    Und tatsächlich gab es auch einige, denen man nicht beigebracht hatte, dass man Kartoffeln, Sauce und Gemüse nicht zu einer amorphen Masse verrührte, sondern allenfalls auf der Gabel vermengte.
    Die wenigsten breiteten die Serviette über die Oberschenkel und stopften sich diese nicht hinter den Binder. Und bevor etwa Grotewohl zum Weinglas griff, tupfte er sich die Lippen, wie es sich gehörte, um Fettränder am Glasrand zu vermeiden. Das ignorierten die anderen. Sie fassten auch nicht wie er die Weingläser am Stiel, um nicht den Inhalt unnötig zu erwärmen, und kippten den Wein stattdessen in einem Zug wie einen Kurzen. Die meisten unserer Gäste hätten bei einem Kursus »Tischmanieren« gewiss viel Neues erfahren. Doch sie hielten es wie in ihrem Beruf: Sie hatten ein bedeutendes, wichtiges Amt, und darum waren auch sie wichtig und bedeutend, und was sie taten oder unterließen, war es folglich auch.
    Das alles jedoch wurde mir erst im Laufe meiner Jahre bewusst. Meine – gewiss verständliche – Ehrfurcht vor diesen Persönlichkeiten ließ mich über manches hinwegsehen. Später sah ich das kritischer. Natürlich konnten sie mit meiner Nachsicht rechnen: Die meisten kamen aus einfachen, bescheidenen Verhältnissen, und sie kämpften in der Illegalität oder ums Überleben, während Gleichaltrige ihre bürgerlichen Benimmkurse absolvierten. Aber inzwischen hätten sie das zwangsweise Versäumte nachholen können – wenn sie denn dieses Defizit auch als ein solches begriffen hätten. Aber genau das taten sie nicht. Und es war niemand da, der ihnen das mitzuteilen getraute. In vielen Dingen äfften mancher der Bourgeoisie nach und zeigte Anflüge von Gutsherrenmentalität. Ausgerechnet dort, wo es nichts kostete, aber einen guten Eindruck machte, verweigerten sie sich demonstrativ.
    Mitte der 60er Jahre öffnete der Koch Rolf Anschütz im thüringischen Suhl ein japanisches Restaurant, es war das erste in der DDR und sollte über viele Jahre das einzige hierzulande sein. Das lag nicht am fehlenden Interesse (im Gegenteil: Tisch-Reservierungen dauerten dort bisweilen bis zu zwei Jahren), sondern an den fehlenden Zutaten. Anschütz ging jedoch kreativ mit dem Mangel um. Statt Sojanahm er Worchester-Sauce, Algen ersetzte er durch Spinat und anstelle rohen Thunfischs verwandte er Karpfen. Das sprach sich bis Wandlitz herum, weshalb ein Raum im Klubhaus zum japanischen Restaurant umgebaut wurde.
    Jedoch: Es blieb so ungenutzt wie alles andere auch.

Über den Wolken
    In den 60er Jahren wurde wenig ins Ausland gereist. Das lag weniger am Wollen, mehr an den Möglichkeiten. Die DDR unterhielt diplomatische Beziehungen zu den Verbündeten, der Rest der Welt, und das war deren größter Teil, ignorierte die zweite deutsche Republik. Dabei gab es nicht wenige Staaten insbesondere in der Dritten Welt, die um der eigenen Anerkennung willen auch die Deutsche Demokratische Republik völkerrechtlich anerkannt hätten, doch da stand die Hallstein-Doktrin vor. Der Staatssekretär im Bonner Auswärtigen Amt hatte formuliert, dass die Bundesrepublik es als unfreundlichen Akt betrachtete, wenn ein Staat zur DDR – welche man selbst nicht einmal so bezeichnete: das war unverändert »die Zone« – eigenmächtig Kontakte knüpfte. Für den Fall diplomatischer Anerkennung drohte Bonn sogar mit dem Abbruch der Beziehungen. Unter dieser Schwelle lag die Drosselung der Wirtschafts- und Entwicklungshilfe und andere Sanktionen, die jungen Nationalstaaten, welche soeben erst ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, schwer zu schaffen gemacht hätten. Und darum beugten sie sich dem Druck, bis Ende des Jahrzehnts die Brandt-Regierung die Hallstein-Doktrin aus dem Repertoire der
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