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Hingabe

Hingabe

Titel: Hingabe
Autoren: Peter Postert
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ihn kennen? Würde sie abgestoßen sein? Kaum vorstellbar. Er roch so gut, er fühlte sich so männlich an. Es würde keinen Grund geben, warum sie ihn hätte abstoßend finden können.
    Keinen!
    Warum bestand er jetzt darauf, dass sie es sich genau überlegen sollte? Sie hatte es doch überlegt. Sie hatte sich auf alleseingelassen. Sie war jetzt hier in diesem Raum. Morgen würde sie woanders sein, aber heute war sie hier. Würde es alles zerstören, wenn sie ihn sehen konnte? Nicht vorstellbar. Vor allen Dingen wollte sie nicht warten, sie wollte nicht länger im Unklaren sein. Sie musste es wissen. Heute und jetzt.
    Und doch hatte sie immer noch die Gerte im Mund. Ihre Wünsche äußern konnte sie gerade nicht. Würde er sie fragen, damit sie nicken konnte? Würde er ihr die Gerte aus dem Mund nehmen, damit sie sprechen konnte? Lena wartete gespannt und voller Sehnsucht, die erlösende Frage positiv beantworten zu können.
    ‚Bitte frag mich doch endlich. Ich will dich sehen. Endlich auch sehen!‘
    Lena hoffte, er würde lesen, was sie dachte. Und würde sie endlich erlösen. Seit Tagen fragte sie sich, wer er war und was er war. Und nun war der Augenblick nah.
    ‚Bitte. Bitte‘, flehte sie stumm.
    M. sagte nichts. Er tat nichts. Er war in ihrer Nähe, aber tat nichts. Er fragte sie nicht, ob er ihr die Augenbinde wegnehmen sollte. Er nahm ihr nicht die Gerte aus dem Mund.
    Lena wusste nicht, wieso. Sie konnte es sich auch nicht erklären.
    Sie konnte nicht ahnen, warum M. so vorsichtig war.
    Er quälte sie nicht. Es war vielmehr der Versuch, sie zu beschützen. Das konnte Lena nicht wissen. Sie war nur noch darauf fixiert, IHN endlich sehen zu können. Diese Aussicht ließ sie alles andere vergessen. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Sie hatte alles vergessen. Alles.
    Da sprach ER sie an:
    „Lena, ich werde dir gleich die Gerte aus dem Mund nehmen und dich fragen, was du möchtest. Ich will nicht, dass du nur nickst oder mit dem Kopf schüttelst, ich möchte es ausdeinem Munde hören, was du willst. Einverstanden?“
    Lena nickte stumm. Und hoffte, er würde ihr die Gerte aus dem Mund nehmen.
    „überlege es dir gut, es wird deine Entscheidung.“
    Wieder nickte Lena unmerklich. Innerlich rumorte es in ihr.
    ‚Wieso bin ich denn hier? Ich habe mich auf alles eingelassen, auf wirklich alles. Und in der Situation alles andere als selbstverständlich. Ich habe meine Beziehung zu Marcus aufs Spiel gesetzt, der es sicher nicht fassen könnte, wenn ich ihm alles erzählen würde. Ich befinde mich in der beruflichen Situation, die meine volle Aufmerksamkeit erfordert, und doch bin ich jetzt hier. Ich weiß nicht genau, wo, aber ich bin hier. Nackt auf dem Bett, ich sehe nichts, ich kann nicht sprechen. Ich bin hier, für DICH da. Bitte gib mir, wonach ich dürste. Tu es endlich.‘
    Wieder spürte er ihren Wunsch, ihre drängenden Gedanken. Doch noch gab er dem nicht nach. Als würde er hoffen, sie würde in jedem Fall „nein“ sagen, „Nein, es ist nicht wichtig, ich muss dich jetzt nicht sehen. Nicht heute, nicht jetzt.“ Als wollte er sie mit dem Noch-nicht-fragen beschützen. Und doch wusste er, dass er ihr diese Entscheidung nicht abnehmen konnte. Oder durfte.
    Er seufzte innerlich. Lena durfte es nicht hören.
    Er fürchtete nicht den Moment, an dem sie IHN sah. Er fürchtete etwas anderes. Es war soweit. Dieser Moment war jetzt gekommen.
    Er fasste den Griff der Gerte und zog sie langsam aus ihrem Mund. Sie musste sich zwei Mal über die Lippen lecken und ein paar Mal schlucken, denn ihr Mund schien völlig ausgetrocknet. Dann wartete sie. Auf ihn. Auf seine Frage. Auf ihre Chance, zu antworten. Dann sprach er:
    „Ich frage dich jetzt. Möchtest du, dass ich dir die Augenbindeabnehme? Du wirst mich sehen können. Du wirst wissen, wo du bist und was hier ist.“
    Lena hatte eine kurze Frage erwartet und wollte nach dem ersten Satz schon antworten. Der zweite Satz ließ sie stocken.
    ‚Du wirst sehen können, was hier ist.‘
    Was meinte er damit? Sicher nichts Besonderes. Er verstand es einfach, mit Worten zu spielen, wie er es verstand, mit ihr zu spielen. Und sie wieder aufzufangen.
    Aber ihr Entschluss stand fest. Sie wollte, nein, sie musste IHN sehen.
    „Ja, nimm sie mir bitte ab. Ich möchte es.“
    Sie spürte seine Hände an ihrem Nacken. Sie strahlten Kraft aus. Sie glitten etwas höher, bis sie an dem Knoten der Augenbinde angekommen waren.
    Lena hielt den Atem an. Die Sekunden
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